Wer die Geschichte der Menschheit erzählen will, sollte ein paar Fakten kennen, zumindest die wichtigsten, sie auf einem Erzählstrang anordnen, und zwar möglichst in chronologischer Reihenfolge.
Die Handlung wäre natürlich ziemlich komplex, denn es ist ja viel passiert, und man wüsste nie so recht, wo man anfangen soll.
Aber vielleicht können da die Nornen helfen, die drei Schicksalsfrauen der nordischen Mythologie, die seit Urzeiten beschäftigt sind, am großen Tuch der menschlichen Geschicke zu weben, wobei sie die Fäden aller Menschen sorgfältig miteinander verknüpfen.
Glücklicherweise stehen sie im Neuen Museum zu unseren vollen Verfügung, nämlich als Fresco im ersten Stock, Saal 102, in der zweiten Lünette des linken Fensters, wo sie wie durch ein Wunder auch den 2. Weltkrieg überlebt haben.
Urd sitzt mit ihren prophetischen Schwänen an einer Quelle und ritzt Runen über die Vergangenheit. Man könnte sie bitten, das eine oder andere Geheimnis zu lüften, etwa wer zum Teufel Ilias und Odyssee geschrieben hat oder ob Homer jemals existiert hat. Verdandi könnte die Fäden unserer unbegreiflichen Gegenwart für uns entwirren, während wir Skud ans Herz legen möchten, Yggdrasil, den mythischen Baum des Lebens, der im Reich der Toten wurzelt und seine Wipfel ins Paradies der Götter erstreckt, ausgiebig zu gießen, um uns vor bösen Überraschungen in Zukunft zu bewahren.
Es ist zweifellos tröstlich und herzerwärmend, sich bei der Aufgabe, die Geschichte zu entschlüsseln, nicht alleine zu wissen, im Übrigen machen die nordischen Gottheiten als Mitarbeiter auch einen ziemlich zuverlässigen Eindruck. Allein der Gedanke, den Begriff der Zeitdauer in Angriff nehmen zu müssen stürzt uns erneut in Verzweiflung.
Wann immer die Zeit wie ein gesundes Herz regelmäßig pulsiert, fühlt sich jedermann – pathologische Fälle einmal ausgenommen – mehr oder weniger sicher, ebenso wie feste Termine eine beruhigende Wirkung haben.
Trotzdem gemahnt uns eine Stimme aus den unergründlichen Tiefen unserer Seele ständig, dass die Zeit zwar die Abfolge gewisser menschlicher und göttlicher Geschehnisse für uns birgt, in ihrem natürlichen Zustand aber frei und rein schwebt, unabhängig von persönlichen Angelegenheiten und von den Fäden der Nornen. Dieser Stimme Folge zu leisten hieße, die Zeit zu entlassen in ihre
unbeschwertes Jagen nach den flüchtigen Sternen des unendlichen Raums.
Beklemmungen der kosmischen Art werden wir dabei nicht zulassen, sondern wir werden uns vielmehr darin treiben lassen, allerdings ganz unbewusst und unbelastet.
Time is the fire in which we burn, wie Dr. Soran mit nasaler Stimme und intensivem Blick in „Star Trek: Treffen der Generationen“ sagte, die Zeit ist das Feuer, in dem wir verbrennen.
Außer Dr. Soran und den Göttern haben sich Dutzende von Philosophen, Mathematikern, Physikern und Denkern aller Epochen und Kulturen dem Phänomen der Zeit gewidmet. Dabei sind äußerst interessante Theorien entstanden, allumfassende und beruhigende, partielle und verstörende, oder auch Kombinationen von beidem und wieder andere, die kein Mensch versteht.
Viel ist darüber gesagt und geschrieben worden, und viele haben ihre Forschung so weit getrieben, dass sie darüber den Verstand verloren haben.
Da wir unseren Verstand noch brauchen können, und sei es nur um die Bedürfnisse und Notwendigkeiten des Alltags zu meistern, können wir uns gar nicht erlauben, uns mit Geist und Seele in die Abgründe des philosophischen Mysteriums der Zeit zu versenken.
Wir beschränken uns kurzerhand darauf, die allgemein bekannte Wichtigkeit der Zeit anzuerkennen: Die Kinder klagen, ihre Hausaufgaben würden sie vom Spielen abhalten, Arbeitnehmer fühlen sich versklavt, und wer Zeit hat, mag sich tatsächlich glücklich schätzen, sofern er die Stunden dann auch zu nutzen weiss. Der Saal 202 des Neuen Museums, direkt über dem Raum mit den Nornen, ist den Römischen Provinzen gewidmet. Dort erfährt man, dass Cicero selbst die Freizeit mit sicherem Geschick in genau vier Bereiche einzuteilen verstand: Zeit für Feste und öffentliche Spiele, Zeit für die Unterhaltung von Körper und Geist, für die festliche Mahlzeit, und für das Spiel mit Ball und Würfel. Komfortable 180 jährliche Festtage, Theater, Wagenrennen, Gladiatorenspiele, Tierhetzen: das Leben in Rom ließ sich schon aushalten, und erhielt seinen höheren Sinn durch das Würfelspiel, kompulsiv betrieben von Kaisern wie von Sklaven.
Der Würfel, lateinisch aleas, war schon immer ein Spiel des Zufalls, der Aleatorik, das existenzielle Gleichgewicht der Römer schwankte also zwischen Wagnis und Regel, zwischen dem Kitzel des unvorhersehbaren Zufalls und dem ständigen Versuch, das Schicksal gefügig zu machen oder zumindest zu befragen, wie das ja auch seit jeher und wohl auch in alle Zukunft in vielen anderen Kulturen geschieht.
Ein beliebter Handstreich von Revolutionen, Diktaturen und natürlich Religionen besteht in der Änderung des Kalenders, eine Aneignung der Deutungshoheit über die Zeitläufe. Blättert man durch die Kataloge unserer Museen aus DDR-Zeiten, wird man beispielsweise feststellen, dass dort Christus von der Zeitachse getilgt ist. Jahreszahlen wurden im sozialistischen Berlin von dem Kürzel v.u.Z., „vor unserer Zeitrechnung“ bzw. u. Z. „unserer Zeitrechnung“ begleitet. Damit wurde impliziert, dass wir in der Zeit Christi leben: den Namen selbst dann zu unterschlagen war nur eine der bemerkenswerten logischen Kapriolen der Diktatur, Volksertüchtigung sozusagen für den steilen Pfad zu den Gipfeln der Widersprüchlichkeit. Das führte zu dem unerwarteten aber vorhersehbaren Nebeneffekt der Nemesis des Phantoms des ungenannten Christus, löste nämlich eine gewisse Vertiefung der Religiosität aus, vielleicht sogar die theologische Wiederentdeckung des zweiten Gebots: Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen.
Wie gesagt, die Vereinnahmung der eigenen Epoche durch Änderung der Datierung ist für alle Völker in der Geschichte immer eine unwiderstehliche Verlockung gewesen, denn über einen eigenen Kalender zu verfügen verleiht Sicherheit.
Jede Religion zählt die Zeit bekanntlich auf ihre Weise, später gab es dann einen französischen Revolutionskalender und einen faschistischen, so dass man sich über nichts mehr zu wundern braucht und selbst das heutige Datum keine feste Größe mehr ist.
Früh schon haben die Menschen geahnt, dass Kontrolle über die Zeit den Einfluss auf vielerlei Dinge erschließt, also ein Mittel zur Machtausübung darstellt.
Ein schönes Beispiel hierfür findet sich gerade hier auf unserer Insel, im Saal 305 im 3. Stock des Neuen Museums. Es ist der Goldhut: er besteht aus 490 Gramm reinen Goldes und ist lang und spitz wie der Hut eines Zauberers. Die eingeritzte Schrift erzählt eine Geschichte, die 19 Jahre dauert, nämlich den detaillierten und vollständigen Verlauf der Zyklen von Sonne und Mond, die sich erst nach 19 Jahren wiederholen. Das wertvolle Instrument wurde offenbar etwa 1000 Jahre vor Christi Geburt angefertigt, in einer Zeit und einer Gegend, in der man noch nicht so richtig schreiben konnte, dafür aber mit größtem Interesse und über dutzende Jahre hinweg den Himmel beobachtete. Solche Beobachtungen wurden von Generation zu Generation weitergereicht und durch Zeichnungen festgehalten.
Erste Vorstellungen über die Zeit bezogen die archaischen Menschen also offenbar vom Himmel, deshalb besteht auch heute die Vermutung, die Zeit wäre bevorzugt zwischen den Sternen beheimatet. Um ihr näherzukommen, müsste man sich also selbst in Richtung Firmament aufmachen.
Vor der Entdeckung des Goldhuts, der 1996 plötzlich auf dem Kunstmarkt auftauchte, wurde der astronomische Kalender des Griechen Meton aus dem Jahr 432 v. Chr. für den frühesten seiner Art gehalten. Diese Kenntnis war also schon viel älter.
Es gibt auf der Welt vier solche Hüte, das Berliner Exemplar ist des wertvollste und bedeutendste.
Astronomische Kenntnisse waren nützlich für das Berechnen von Mond- und Sonnenfinsternissen und zur Bestimmung der Saat- und Erntezeiten. Die wenigen, die zu diesem Wissen Zugang hatten, genossen ähnlichen Respekt und Verehrung wie religiöse oder politische Oberhäupter. Sie mochten solche Hüte anlässlich bestimmter Zeremonien getragen haben; hoch und leuchtend wie sie waren, konnte man sie von weit her sehen.
Einen goldenen Kalender als Machtsymbol auf dem Kopf zu tragen ist zweifellos einer der grandiosen Einfälle der Menschheit und zwingt uns heute noch Bewunderung ab. Fest steht allerdings: trotz aller Versuche, sie in den Griff zu bekommen, entzieht sich die Zeit unserem Willen, eine unbezwungene und souveräne Herrscherin des Himmels.
Diese Erkenntnis erfordert in ihrer unerbittlichen Schonungslosigkeit eine adäquate musikalische Untermalung. Beim Verlassen des Saals mit dem Goldhut sollte man daher unverzügliche auf den Knopf drücken, der sich links am Fuß des bronzezeitlichen Horns im Saal 306 befindet.
Eine Mischung aus gellendem Brüllen, metallischem Rappeln und verstimmter Trompete begleitete die erhabensten Momente der Urmenschen.
( Übersetzt von Christoph Timpe )