Ein schöner Name, „Großer Stern“. Gern begibt sich der Dichter auf diesen weiten Platz inmitten des ehemaligen kurfürstlichen Jagdreviers, Tiergarten genannt. Der Platz ist voller Touristen, denn verschiedene Sehenswürdigkeiten kreuzen sich hier: der Tiergarten selbst mit seinen Seen, Statuen, dem duftenden Rosengarten, das nahegelegene Schloss Bellevue, Residenz des Bundespräsidenten, etwas weiter das Brandenburger Tor, sowie das Spreeufer mit den großen, modernen Gebäuden, die sich im Wasser spiegeln. Der Dichter bevorzugt im allgemeinen intimere, verstecktere, unbekanntere Ecken, die Besucher dagegen sind unwiderstehlich angezogen von dem großen Rondell mit der Siegessäule in der Mitte, gekrönt von der goldenen Statue, Lorbeer in der Rechten und Zepter in der Linken, die Strasse des 17. Juni im Blick, Gewand und Flügel im Wind gebläht. Man fragt sich, was der Dichter sucht am Großen Stern, bei all dem Verkehr, den Stadt- und Touristenbussen, Taxis, Fahrrädern, Rikschas, Segways und Rollschuhfahrern, deren Fahrverhalten die Fußspitzen der Passanten aufs Spiel setzt.
Er will die Heilige Dreifaltigkeit der deutschen Reichsgründung besuchen, den Kanzler Bismarck und die Generäle Roon und Moltke. Wenn der Dichter nämlich politisch-metaphysische Grundsatzfragen hat, kommt er hier her und befragt die großen alten Weisen. Sie ruhen hier und antworten ihm. Dass sie groß waren bezeugt schon die Dimension ihrer Statuen. Aber auf der Nordseite des Platzes stehen sie etwas abseits und bekommen nie Sonne, es wirkt, als sei ihre Zeit vorbei. Sie leisten zwar der geflügelten Viktoria Gesellschaft, aber kein Tourist nimmt sie wahr, trotz ihrer Größe. Bismarck mit Pickelhaube stützt mit der Linken sein Schwert auf den Boden, die Rechte hält eine Drapierung, wie in einer antiquierten Pose. Der Körper ist aufgerichtet, Beine gerade, Füße im 60°-Winkel, wie beim klassischen Ballett. Die preußische Uniform flattert wie ein Röckchen in der Luft, doch ist es nicht der Wind, der die Viktoria mit Leben erfüllt. Jede Statue scheint hier von ihrem persönlichen Wind beseelt. Der Eiserne Kanzler blickt nach unten, doch da sein Standbild hinter dem von General Roon steht, meint der Dichter, er würde diesen beobachten. Die Bismarck-Statue steht auf einem Sockel mit allegorischen Darstellungen seiner Tugenden. Das Standbild allein wurde offenbar der großen Persönlichkeit nicht gerecht. Bismarck wirkt hier weniger wie ein Staatsmann als wie ein Super-Held: die weibliche Figur, die den Leoparden drückt, Abbild der Stärke, stellt Deutschland dar, Atlas mit dem Globus auf den Schultern die titanische Kraft des Kanzlers, die Sibille spielt an auf die politische Besonnenheit, die Sphinx steht für die spirituellen Qualitäten des großen Otto. Die Bismark-Statue ist ein Werk des bekannten Bildhauers Reinhold Begas und sollte den Platz vor dem Reichstag schmücken. Kurz vor dem Krieg hat der Architekt Speer die Umsetzung an den jetzigen Standort veranlasst, denn für den Platz vor dem Reichstag hatte er andere großartige Pläne. Am Ende war es gut so, denn an dieser Stelle waren die Bombenschäden geringer. General Roon, Kriegsminister zu Zeiten Bismarcks, blickt finster in Richtung Potsdamer Platz. Er hat den Helm abgesetzt. Bei ihm regt sich trotz der Nähe zu Bismarck kein Lüftchen und der preußische Rock fällt gerade herab. Er stützt eine Hand in die Seite, die Adern treten hervor, er trägt gezwirbelten Schnurrbart und Kriegsauszeichnungen auf der Uniform.
General Moltke präsentiert sich in blendendem Weiß. Die ausdrucksvollen Falten um Augen und Mundwinkel lassen auf ein bewegtes Leben schließen. Er steht gestützt auf eine Art Rückenlehne, das rechte Bein über das linke gekreuzt, die linke Hand hält die rechte, auch er mit markant hervortretenden Adern. Er steht da, als warte er auf den Bus, oder wie ein Matrose, der am Hafen auf seine Liebste wartet und scheint, wie er da so steht, der Viktoria einen verstohlenen Blick zuzuwerfen. Dieser Quatsch stammt natürlich aus dem Mund des Dichters, er kann sich das erlauben, weil Moltke, wie er uns verrät, sein bester Freund ist.
Die drei Männer lebten im 19. Jahrhundert und ihr Beitrag zur Reichsgründung und zum Aufstieg Deutschlands zur europäischen Großmacht war so groß, dass sie gegen Ende ihrer erfolgreichen Karrieren mit hohen Adelstiteln belohnt wurden. Korrekterweise muss man also Fürst von Bismarck, Graf von Roon und Graf von Moltke sagen. Graf von Roon, ein Konservativer und Unterstützer der Monarchie, hat maßgeblich zur Modernisierung der preußischen Armee des 19. Jahrhunderts beigetragen. Die Beobachtung militärischer Ineffizienz veranlasste den noch nicht dreißigjährigen 1832 zur Niederschrift der Grundzüge der Erd-, Völker- und Staatenkunde. Seine Theorien waren einigermaßen erfolgreich, und er wurde Privatlehrer des Prinzen Friedrich Karl. Er organisierte die verhasste Landwehr neu, ein stehendes Reserveheer mit zweitrangigen Aufgaben, das bei Bedarf in das eigentliche Heer eingegliedert werden konnte. Diese Maßnahme war äußerst unpopulär, denn sie bedeutete die ständige Bereitschaft praktisch der gesammten männlichen Bevölkerung, aber der Erfolg im Krieg gegen Österreich 1866 und Frankreich 1870-71 gab ihm Recht. Über Bismarck ist eigentlich alles bekannt, namentlich seine Rolle als Ministerpräsident Preußens und als Reichskanzler von der Reichsgründung 1871 bis 1890. Dreißig Jahre Regierung ist ja nicht wenig. Er wird meist als wohlgenährter und strenger Staatsmann dargestellt. Der Dichter flüstert uns ins Ohr dass Bismarck in jungen Jahren schlank und im Studium faul war, er trieb sich mit seinen Studienfreunden herum und organisierte am liebsten Duelle, eine Art Nationalsport der damaligen Zeit. Er verliebte sich in zwei englische Mädchen, wurde dann aber Anhänger des Pietismus und führte ein gediegenes und sittsames Privatleben, heiratete und hatte drei Kinder. Er richtete seine ganze Energie auf seine Arbeit in der Politik, so dass Wilhelm I. ihn loswerden wollte und erst als Botschafter nach Petersburg und dann nach Prag schickte, um ihn aber nach Berlin zurückzurufen, als er seine unerschütterliche Zähigkeit wieder benötigte. Und in Berlin blieb er dann bis ans Ende seiner Tage, zum Nutzen von Wilhelm I. und seinem Nachfolger Wilhelm II., wenngleich schlecht gelitten wegen seiner überwältigenden Persönlichkeit.
Moltke dagegen war immer bei allen sehr beliebt, und ist nicht zufällig der beste Freund des Poeten.
Er wurde 1800 als Sohn einer adeligen Familie geboren, die aufgrund eines Umsturzes im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin nahe der dänischen Grenze plötzlich verarmte. Sein Vater war dänischer Bürger, und der Sohn behielt die väterliche Staatsbürgerschaft bei. Er kam ins Internat und trat dem dänischen Herr bei. Er machte früh durch seine Intelligenz auf sich aufmerksam, stieg zum Leutnant auf und wurde Page des Königs. Mit 21 Jahren verließ er das dänische Heer und begann seine Karriere beim preußischen Heer von vorne, unter Verlust seiner bisherigen militärischen Stellung.
Beim preußischen Heer fand seine Bildung und sein Geschick bald Beachtung. 1827 veröffentlichte er einen Roman, Zwei Freunde. Er schrieb Aufsätze über die Politik in Holland, Belgien und Polen. 1832 wollte er ein Pferd kaufen und brauchte Geld. Er nahm also den Auftrag an, für 75 Mark den Verfall und Untergang der Römischen Imperiums von E. Gibbon ins Deutsche zu übersetzen. In anderthalb Jahren übersetzte er 9 der 12 Bände, aber der Verlag veröffentlichte das Werk schließlich nicht und Moltke bekam lediglich 25 Mark.
1835 wurde er zum Hauptmann befördert. Einen Diensturlaub von 6 Monaten verbrachte er im süd-östlichen Europa. In Konstantinopel beauftragte ihn Sultan Mahmud II. mit der Modernisierung des osmanischen Heeres. Moltke erbat sich aus Berlin, seinen Aufenthalt auf 2 Jahre verlängern zu dürfen, und verbrachte schließlich 4 Jahre im verschiedenen Ländern des Orients.
Wieder in Berlin, heiratete er die Engländerin Mary Burt, verfasste eine Karte von Kleinasien und entwickelte Interesse am Eisenbahnwesen. Er reiste weiter durch Europa und wurde 1857 zum Generalfeldmarschall des preußischen Heeres ernannt. Diese Stellung behielt er 30 Jahre lang. Schon das bisher hier angedeutete zeigt General Moltkes herausragende Persönlichkeit. Aber sein eigentlicher Ruhm beruht auf seiner Rolle als einer der größten Strategen der Geschichte. Er brachte dem Heer das moderne Truppenmanöver bei, mit dem flexibel auf die Bewegungen des Feindes und auf überraschende Situationen reagiert werden konnte. Damit hatte er großen Erfolg im Dänischen Krieg 1865, im Krieg gegen Österreich 1866, und vor allem natürlich im Krieg gegen Frankreich 1870/71, der mit dem Sieg in der Schlacht von Sedan für Preußen entschieden wurde und zur Gründung des Deutschen Reichs führte. Diesen Siegen liegt aber auch das gute Zusammenspiel zwischen Moltkes Strategie und dem Wirken Roons als Kriegsminister zugrunde, der Moltke mit immer effizienteren und professionelleren Truppen versorgte. Der Dichter nimmt einen Zweig und zkizziert in den staubigen Boden die Strategie seines großen Freundes. „Die Strategie ist ein System der Aushilfen. Sie ist mehr als Wissenschaft, ist die Übertragung des Wissens auf das praktische Leben.“
Punkt eins: „Jede Strategie reicht bis zur ersten Feindberührung.“ Planbar ist folglich nur der Beginn der Operationen, anschließend besteht die militärische Strategie aus einer Reihe von Optionen innerhalb eines Plans mit vielen variablen Größen. Dieser Gedanke war damals völlig neu, er ist nach wie vor ein Grundsatz jeder modernen Militärstrategie.
Punkt zwei: „Getrennt marschieren, vereint schlagen!“ Die Truppenteile sollen sich demnach unabhängig voneinander bewegen, um den Nachschub nicht zu behindern, und sich erst im Moment der Schlacht vereinen.
Der Dichter zögert und hebt die Augen: eine riesige Truppe Touristen marschiert mit geschlossenen Reihen auf die Siegessäule zu. Er schüttelt den Kopf und fährt fort:
Punkt drei: „Ein Angriff von der Seite ist besser als ein frontaler.“
Darüber besteht kein Zweifel.
Da bleibt nur die Frage, wie es zu der dicken Freundschaft zwischen einem Militärstrategen und einem Dichter kommt. Moltke hätte, so der Dichter, die Gabe der Vielsprachigkeit gehabt und in sieben Sprachen schweigen können. Die schwierige Jugend hätte ihn mit einer derartigen Selbstkontrolle ausgestattet, dass er nie einen falschen Tritt tat. Beliebt und bewundert war er schon, bevor er erfolgreich und berühmt wurde.
Freundlichkeit gegen jedermann ist die erste Lebensregel, die uns manchen Kummer sparen kann. Der Dichter fasst das gerührt zusammen: er war eine noble Seele.
Übersetzt von Christoph Timpe