Auf der Suche nach der verlorenen Luft

Raffaela Rondini

 

Wir haben probieren wollen, wie Berlin riecht, wenn es sich die Zukunft elegant und raffiniert vorstellt.

Berlin entwickelt sich allerdings in sehr unterschiedliche Richtungen.

Die massiven Immobilieninvestitionen sind in vielen Gegenden der Stadt spürbar. In Mitte wollte man den Straßen ein exportfähiges Image von solidem Wohlstand und kulturellem Niveau verleihen. Andere zentrale Gebiete des ehemaligen Ostberlin sind auf demselben Weg und bewegen sich, wenngleich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, in Richtung Zukunft.

Gerüche, die noch vor wenigen Monaten für gewisse Ecken typisch waren, verschwinden immer mehr. Oft handelte es sich dabei um entsetzlichen Gestank, aber immerhin war es ein authentisches und bodenständiges Zeugnis. Diese Gerüche sind heute verschwunden, die Luft wurde geläutert und veredelt, oder andere Gerüche sind an ihre Stelle getreten.

Bis vor einigen Monaten roch man bei Humana am Frankfurter Tor noch das unverkennbare Humana-Aroma, jetzt hat sich das Humana-Aroma verflüchtigt. Humana ist ein großer Betrieb, der gebrauchte Kleidung sammelt, oft direkt in eigenen Containern, um sie dann wieder zu verkaufen, der Erlös wird zum Teil gespendet. In Berlin gibt es eine riesige Zentrale, wo alle Kleider gesammelt und dann an die einzelnen Läden verteilt werden. Der Laden am Frankfurter Tor in Friedrichshain ist der größte der Stadt, er nimmt vier Stockwerke ein. Das typische Humana-Aroma verströmte hier bis 2013 mit voller Kraft. Die Kleidungsstücke im Angebot waren natürlich alle gewaschen und gebügelt, hatten aber zweifellos viel Zeit in Schränken, Kellern und wer weiß wo verbracht, waren mit Mottenkugeln behandelt, oder versehentlich mit ungewaschener Wäsche aufbewahrt, gereinigt, oder mit DDR-Waschmittel behandelt worden. Jedenfalls bot ein Besuch in diesem Gebraucht-Warenhaus bis vor Kurzem ein einmaliges Geruchserlebnis: Spuren von altem Schweiß gemischt mit Naphthalin, mit einem Beigeruch von fruchtiger Feuchtigkeit. So, all das gibt es heute nicht mehr. Im Jahr 2014 riecht Humana wie eine Wäscherei. Offenbar wird jetzt alles mit heißem Dampf behandelt.

Wo wir schon am Frankfurter Tor auf der Suche nach dem verlorenen Gestank sind, können wir auch gleich in den Frittiersalong in der Boxhagener Straße 104 gehen, geöffnet jeden Tag ab 13 Uhr. Allein bei dem Gedanken hebt man unwillkürlich den Armel zur Nase, aber hier im Frittiersalong wird er er nicht nach Fett stinken. Eine richtige Frittenbude, aber Fusion. Die Kartoffeln sind bio und duften nach Thymian und Rosmarin, es gibt vegane Soßen und sogar vegane Burger und Currywurst. Natürlich bekommt man auch ganz klassische Hamburger, die sind auch sehr gut, und man kann sie mit einer scharfen Orangen- oder Pfeffersoße auffrischen. Dazu trinkt man Frittonade in den Sorten Erdbeere, Rhabarber oder frischer Minze, und das Brot dazu ist frisch und lokal.

Und so distanziert sich das neue Berlin der ehemaligen Arbeiterviertel von seiner proletarischen Vergangenheit: ein Schluck Frittonade und kleine Schritte in Richtung Reinheit und Natur, Symbole des Neuanfangs. Wollte man die Luft in den ehemaligen Ostbezirken Friedrichshain und Prenzlauer Berg beschreiben, so könnte man es so zusammenfassen: die triste Vergangenheit von Eintönigkeit, Unterdrückung und Elend soll durch eine Zukunft aus Farbe, Leichtigkeit und Wohlstand ersetzt werden. Damit ist die augenfällige Seite des Phänomens angesprochen, und so gesehen wirkt es ja auch ganz positiv. Der frische Wind ist aber oft auch aufgesetzt, und wird getragen von Initiativen, die nicht aus der Stadt selber kommen. So gibt es Viertel, die völlig entstellt sind und von einer völlig neuen Bevölkerung bewohnt werden. Natürlich besteht die Resource von Berlin in der Beweglichkeit und der Weltoffenheit. Aber die heftige Bewegung an der Oberfläche zerstört das sedimentierte Stadtleben der vergangenen Generationen, und entzieht ihnen buchstäblich den Boden unter den Füßen. Der sandige Boden von Berlin ist ein gutes Bild für das Herumflattern der Quartiere und für die Berliner, die ihnen hinterherlaufen wie Nomaden in der Wüste. Einem Fremden leuchten die Augen, wenn er sagt: Berlin ist international, ein Berliner sagt Berlin ist international mit einem Murren. Solange wir dieses Murren hören, ist das alte Berlin noch lebendig und alles in Ordnung. Wenn wir nur noch hören: Oh, it’s SO international!, dann ist der Moment gekommen, die Zelte abzubrechen. Wer weiß, vielleicht fliehen die echten Berliner ja wirklich in die sogenannte Walachei, was Slowakei bedeutet, aber auch Provinz, Land, und gründen da ein neues Berlin, aber bitte ohne Flüsse, damit keine Touristen darauf herumfahren können, und vor allem ohne Flughäfen, die bringen Unglück. Neu-Berlin, das geht so: Mit einem Kompass werden zwei senkrechte Achsen angelegt, und an den vier Eckpunkten steht Nord Neu-Berlin, Süd Neu-Berlin, Ost Neu-Berlin, West Neu-Berlin. An den Schildern steht eine Currywurstbude, eine Strandbar für Latte Macchiato, und eine Bierkneipe, die gleichzeitig als Senat dient. Jeder kann nach Belieben über die Achsen springen, ohne auf sie zu treten, mit einem oder mit beiden Füßen, wie die Kinder beim Spielen. Und jeder kann ganz frei sagen: Heute nehme ich einen Latte macchiato im Osten, ohne dass ein bekloppter Tourist den Hinweis gibt: Don’t you know, there’s no longer East! Ah, ah!  Für etwas Abwechslung sorgt an der Achsenkreuzung ein Swingerklub, und das wär’s.

Die Berliner sind bekanntlich pragmatische Leute mit gesundem Menschenverstand. Sie würden Neu-Berlin gründen, allein um ihre geliebte Currywurst vor der Sintflut zu retten. Natürlich in beiden Versionen, mit und ohne Darm. Die Touristen in der Schlange an der Würstchenbude sind bestürzt, wenn sie die Schicksalsfrage gestellt bekommen. Sie fangen an zu schwitzen, zögern, fragen ihren Übersetzer, und die Berliner in der Schlange verlieren die Geduld und ihre wertvolle Zeit. Im touristenfreien Neu-Berlin der Zukunft verliert der Berliner keine Zeit mehr an der Würstchenbude: ein rasches Ohne! heißt ohne Darm, Mit! das Gegenteil. Viele Verkehrsprobleme wären damit gelöst. Der Geruch der Currywurst ist wirklich erhaltungswürdig. In der Nachkriegszeit, kurz nach Ende der Luftbrücke, hatte Frau Herta Heuwer einen Imbiss, in dem sie ihre Würstchen verkaufte. Sie erfand und patentierte eine Soße aus Ketchup, Tomatenmark und Currypulver, und auf einmal wurde die Wurst zur Spezialität. Nun sind die Geschmäcker verschieden und wir haben heute Mühe, uns eine herzhafte Wurst aus dem Jahr 1949 vorzustellen. Allein die Tatsache, dass die Version ohne Darm gerade damals aufkam, lässt eher auf Mangel an Darm als auf kulinarischen Einfallsreichtum schließen. Tatsächlich war die Version ohne dann in Ostberlin die beliebtere. Das Flagschiff der Berliner Schnellküche wird damals wie heute auf einem kleinen Pappteller serviert, in Begleitung von einem Brötchen oder Pommes mit Majonese. Wie gesagt, die Geschmäcker sind verschieden, aber der Geruch ist unmissverständlich fett, penetrant und aufdringlich. Man riecht die Säure vom Ketchup und vom Tomatenmark, die Schärfe des Currypulvers lässt die Augen tränen, dazu kommt das Schweinefett und das Öl der Majonese und der Pommes. Einmal gerochen, vergisst man den Geruch nie wieder. In der Zwischenzeit ist Berlin wirtschaftlich wieder auf der Höhe, kann sich alle nur möglichen Därme leisten, und könnte auf der Straße für wenig Geld Fleisch verzehren, daß nicht im Fett und in dieser sauren und scharfen Soße schwimmt. Jedenfalls haben wir diese geschichtsträchtige Wurst als Symbol für Energie und zähen Überlebenskampf ins Herz geschlossen.

Ihr nächster aromatischer Rivale ist seit dreißig Jahren das Kebab. Der potente Geruch der Currywurst ist heute gottseisgelobt mehr und mehr im Rückzug begriffen und verdient Schutz, ob wir ihn mögen oder nicht.

Er gehört auf die Arche für Neu-Berlin.

Es gibt zwei klassische Currywurstbuden in Berlin, wo man den Geruch schnuppern kann: Konnopke’s an der U2 Eberswalder Strasse in Prenzlauer Berg vertritt die Currywurst des Ostens, und Curry 36 an der U6 und U7 Mehringdamm in Kreuzberg ist sein Kollege im ehemaligen Westsektor. Beide sind immer gut besucht. Curry 36 hat allerdings Mustafa’s Gemüse Kebab zum Nachbarn, erwähnt in allen Touristenführern als einer der besten Plätze für Kebab in Berlin mit deutlich längeren Schlangen als bei der klassischen Wurst. In der Schlange bei Mustafa’s kann man ohne Weiteres zwei Stunden stehen und warten, dabei alle möglichen Fremdsprachen lernen oder auffrischen und Leute kennenlernen. Bei Mustafa’s anstehen ist per se ein abendfüllendes Programm. Das Kebab von Mustafa ist mit Huhn oder auch vegetarisch, das Besondere an diesem erfolgreichen Lokal besteht in den knackigen und frischen Salaten und den leichten Soßen und Frischkäsen. Trotz des enormen Spießes, der sich von früh bis spät am Grill dreht, riecht es bei Mustafa nach Gemüse, Mehl und Brot, und gebratenem Huhn, so wie zu Hause, wenn traditionell gekocht wird, aber mit mehr Gewürzen und weniger Fett.

Dieser Duft ist ein passendes Beispiel für die neuen Gerüche in Berlin, die die Dünste der traditionellen deutschen Küche nach und nach verdrängen.

Vom Aussterben bedroht ist jetzt schon ein echt Berliner Aroma, das der U-Bahn. Damit ist etwas ganz spezifisches gemeint, unabhängig von den wechselnden Ausdünstungen vom bunten Volk der U-Bahnbenutzer. Es ist der typische Geruch in den Stationen. Der U-Bahn-Geruch manifestiert sich am besten in den Bahnhöfen, in denen er nicht vom Geruch von Speisen und Getränken der Verkaufsbuden überlagert wird. Beim Warten auf den Zug riecht die Nase  dann nur den Pseudokäse auf der ex-tiefgefrorenen Pseudopizza. Den U-Bahn-Geruch müssen wir also in Bahnhöfen suchen, in denen die Ausdünstung von Take-away möglichst wenig stört. Deshalb meiden wir die großen und überlaufenen Bahnhöfe und schnüffeln nach den alten, abgelegenen. Die Spur ist leicht gefunden. U-Bahn-Geruch ist eine Mischung aus Gummi, heißem Bremsöl, und vor allem dem Impregnieröl der Holzschwellen. Das Öl heißt Carbolineum und schützt das Holz vor Feuchtigkeit und Aufquellen. Dieser alte Geruch wird bald verschwinden, weil heute die Schwellen aus Beton gefertigt werden. Allein dafür lohnt sich ein baldiger Besuch in Berlin.

Wo wir schon bei Transportmitteln sind, fahren wir zu dem Platz mit der größten Transportmittleldichte: der Alex oder Alexa, d. h. Alexanderplatz. Hier gibt es einen Bahnhof für Regionalverkehr und S-Bahnen, einen unterirdischen U-Bahnhof für die Linien U2, U5 und U8, verschieden Bushaltestellen, darunter für die Linien 100 und 200, die auch bei Touristen sehr beliebt sind, und schließlich fährt seit 1998 auch die Straßenbahn wieder über den Platz, direkt durch die Leute wie vor dem Krieg. Offiziell sind wir in Mitte, allerdings an der Grenze nach Friedrichshain und Prenzlauer Berg, aber am Besten wir betrachten den Großen Platz als Welt für sich. Am Alex ist praktisch ganz Berlin. Alle wichtigen Ladenketten mit ihren jeweiligen Gerüchen sind vertreten und alle Varianten von billigem und schnellem Essen präsentieren sich geradezu aufdringlich der Nase. Zu DDR-Zeiten kamen hier die Paraden aus der Karl-Marx-Allee an, heute demonstriert hier die Diktatur der aggressiven Gerüche. Zum Glück – für den Platz ebenso wie für uns – sind die Flächen derartig riesig, daß sich die Aromen auch schnell wieder verteilen. Anders ist das in den Gängen der U-Bahn. Hier sind die Schnellimbisse einer neben dem anderen gefangen und die Duftmoleküle beißen sich wütend wie Kampfhunde. Von der U2 zur U8 zu laufen ist richtig gefährlich. Deshalb gibt es auf dem Weg auch eine massive Polizeistation. Zum Schutz könnte ein Taschentuch dienen, das man mit einem guten ätherischen Öl parfümiert und auf Mund und Nase drückt, aber das ist etwas umständlich, und deshalb rennt man lieber. Und das ist auch der Grund, warum in der U-Bahn vom Alex immer alle so eilig sind: man flieht vor dem Gestank. Diese Ausreißer vor dem neuen Berliner Einheitsgestank sind keineswegs Verachter des billigen Schnellimbiss, im Gegenteil. Selbst wer sich wie wir pikiert die Nase zuhält ist schließlich doch Kind seiner Zeit. Aber: est modus in rebus, wie der Lateiner sagt,  alles hat seine Grenzen. Diese Unterführung ist aromatisch einfach überladen. Über den Alex klagen und den Alex lieben sind zwei Seiten derselben Medaille, seit es den Alex gibt. Genauso wie alle Tage an der Würstchenbude Schlange stehen und behaupten, dass man Currywurst eklig findet. Wir sind eben pervers, zwanghaft, und glücklich, na und? Die Haupteigenschaft dieses großen Platzes, dem Lieblingskind der Stadt, ist seine unmäßige Größe. Am Alex kann man sich richtig verlaufen.

Das Durchqueren dieses Raumes hat immer etwas von einer Initiation, einer Einführung in die Abenteuer des Finsteren Waldes von heute. Der Alexanderplatz ist das Thema zahlloser Schriften, Filme und Lieder. Um nur die bekanntesten zu nennen: Berlin Alexanderplatz, Roman von Alfred Döblin aus dem Jahr 1929, Total Manoli, Gedicht von Kurt Tucholsky von 1920, der Kurzfilm Leben und Treiben am Alexanderplatz von Max Skladanowsky aus dem Jahr 1896, Szenen aus dem Film Berlin: Die Sinfonie der Großstadt von Walter Ruttmann von 1927, das Lied Alexander Platz von Franco Battiato, und die Liste ließe sich fortsetzen. Manoli war eine bekannte Zigarettenmarke, die schon 1898 die Bedeutung der Werbung für das Lancieren von Markenprodukten erkannt hatte. Bisher bestand Werbung aus einer einfachen Abbildung des Produkts und einem Hinweis auf seine Haupteigenschaften. Der Besitzer der Firma Manoli, Herr Mandelbaum, investierte als erster in Reklamekunst und reflektierte darin den modernen Lebensstil seiner Zeit. So ließ er ein riesiges Reklamerad auf den Dächern um den Alexanderplatz installieren, das Licht an dem Rad blinkte, das Rad drehte sich rückwärts und dabei erschien die Schrift: Raucht Manoli! Das war 1898*. Es war eines der ersten elektrischen Reklameschilder und hatte gigantische Ausmaße. Die Leute blickten zu den Dächern von Berlin auf und waren wie vom Schlag getroffen. Im Berliner Jargon hat sich die Redeweise etabliert: Du bist ja total Manoli!, für jemanden, der nervös ist wie das blinkende Licht, und etwas kauzig, wie das Rad, das sich verkehrt herum dreht. 1920 hat Tucholsky dieser frenetischen Atmosphäre berühmte Verse gewidmet. Wir dagegen wollen hier nur, daß jeder seine Orientierung selber findet.  Wenn man den riesigen modernen Platz heute ansieht, denkt man nicht, dass es der älteste von Berlin ist. Von den Plätzen vor den Toren der mittelalterlichen Stadmauer ist dieser der einzig erhaltene. Seit dem 13. Jahrhundert entsteht er wie ein Phönix immer wieder neu aus der eigenen Asche und plant eine neue Zukunft. In diesen Jahren des Größenwahnsinns träumt er von neuen Hochhäusern auf seinem Boden, sie sollen die höchsten von Berlin werden.

Alles begann im 13. Jahrhundert mit dem Spital Heiliger Georg, benannt nach dem Tor, das an dieser Stelle in die Stadt führte. Im 16. Jahrhundert war das Georgentor – der „Heilige“ war inzwischen der Reformation zum Opfer gefallen – das wichtigste der Stadt. Auf dem Platz davor fand ein großer Viehmarkt statt, er hieß deshalb Ochsenplatz, und dahinter entwickelte sich die Georgenvorstadt. Das Georgentor war durch eine eindrucksvolle quadratische Bastion befestigt, deshalb betrat hier am 6. Mai 1701 Friedrich I. nach seiner Krönung zum König in Preußen im Triumph die Stadt. Von da an begann der Platz in Königstor Platz umbenannt zu werden, und die Georgenvorstadt hieß dann Königsvorstadt, oder einfach Königsstadt. Im 18. Jahrhundert wurde dann die Zollmauer errichtet, das Königstor verlor seine Bedeutung als Stadttor, aber das Viertel blühte auf. Woll- und Seidenmanufakturen siedelten sich an und im Juni fand hier die Deutsche Wollmesse statt. An den unternehmungslustigen Platz zogen Bürger und Literaten, aber auch ein Haufen Tagelöhner, Scherenschleifer, Wasserträger, Fischverkäufer, Lumpensammler…Am 25. Oktober 1805 traf Zar Alexander I. König Friedrich Wilhelm III. und zur Erinnerung an den Besuch bekam der Platz im folgenden Jahr den Namen Alexanderplatz. In der ersten Hälfte des 18. [19.?]* Jahrhunderts war der Platz sehr belebt, ständiger Verkehr von Pferdekutschen verband ihn mit dem Potsdamer Platz. Auf diesem Pflaster haben sich dann wichtige Szenen der Märzrevolution von 1848 abgespielt. Gegen Ende des Jahrhunderts hatten viele Häuser schon fünf Stockwerke, das Grand-Hôtel im Renaissancestil verfügte über 285 Zimmer und der Bahnhof wurde von gigantischen Bögen gestützt. Ab 1898 verkehrte auf dem Platz die erste elektrische Straßenbahn. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden drei große und elegante Wahrenhäuser und die S-Bahnstation errichtet. In den 20er Jahren war die Gestalt des Platzes dann so ähnlich wie heute. Wenn man den Platz heute sieht, mit seiner permanenten Unruhe, seinem Kampf um Rekorde und der Sucht, sich selbst zu übertrumpfen, könnte man in dem Geist von heute die Atmosphäre der modernen, chaotischen Metropole des frühen 20. Jahrhunderts wiederfinden. Die Stimmung vom Alexanderplatz ist in der Literatur zur Genüge beschrieben worden. Die Verkehrsmittel halten nach wie vor die Luft in Bewegung und füllen den ansonsten uferlosen Raum. Nach der Zerstörung des Platzes in den letzten Kriegstagen erfolgte der Wiederaufbau großenteils mit Plattenbauten, eintönigen rechteckigen Gebäuden mit zahllosen Fenstern, die Straßenbahnen wurden in die umliegenden Straßen verlegt und der riesige Raum für die Militärparaden der DDR genutzt. Die Luft und der Wind des fast verkehrsfreien Platzes wurden zur Metapher der Leere und des Persönlichkeitsverlustes von Ostberlin. In den 30er Jahren hatte die Fläche noch 18.000 Quadratmeter betragen, zu Zeiten des DDR-Regimes betrug sie 80.000. Die zentrale Stelle von Ostberlin, der Treffpunkt schlechthin war aber immer zu groß, eine große Leere die sich nie füllen wollte. Natürlich war das Modell dafür der Rote Platz in Moskau, aber Berlin ist nicht Moskau, und diese Vorstellung geisterte durch die ganzen Jahre wie ein beängstigendes Gespenst. Der Haupgeruch des Sozialismus war wahrscheinlich dieser Hauch der Leere. Mit dem Mauerfall füllte sich der Platz mit Einkaufszentren und die Straßenbahn fährt wieder ohne Absperrung mitten darüber, dadurch wird die Fläche in kleinere Bereiche geteilt, in buntere Winkel und Plätzchen, jeder mit eigenen Gerüchen. Der aromatische Grundton der gesamten Fläche wird heute von der Bratwurst bestimmt. Der Rauch der Bratwurst fächert sich auf wie die Bilder eines Kaleidoskops, dank der Männer, die ihn tragen. Tragen im physischen Sinn, denn Männer tragen ihn umher und verteilen ihn. Die Leute tragen auf dem Rücken Gasflaschen und vorne einen Bauchladen mit Grill, an den Seiten sind Halterungen für Senf, Ketchup und Brötchen. Die wandelden Bratwurststände bewegen sich über den ganzen Platz und bieten ihre Wahre zu einem Einheitspreis von 1,35 Euro an.

Gegenüber dem chaotischen Alex der 20er Jahre wirkt unser Alex heute noch immer etwas entfremdet. Ein bisschen wie Geiseln, die nach langer Entführung wieder frei kommen: sie sind psychisch geschwächt und finden nicht richtig den Weg in ihr vorheriges Leben zurück. Unser moderner und kommerzieller Alex findet nicht den Anschluss an den modernen und kommerziellen Alex von vor hundert Jahren. Ein Wittenbergplatz mit seinem KaDeWe und seiner Tauenzienstrasse ist voll mit denselben Marken und Ketten wie der Alex und sieht westlich aus. Alexanderplatz mit seinem Anflug von Stockholm-Syndrom fühlt sich dagegen nicht so recht wohl in seiner Haut, obwohl er ausstaffiert ist wie der reiche Cousin aus dem Westen. Die vielen Plattenbauten gemahnen ihn dann auch immer an die längsten vierzig Jahre seiner Geschichte. Auf die Viertel des ehemaligen Ostens wirkt der Alex zweifellos westlich, aber für West-Berlin ist er immer noch Osten. Beim Betreten der Kaufhof-Galeria, irgendwie das östliche Gegenstück zum KaDeWe, wird man im Erdgeschoß gleich von der Lebensmittelabteilung empfangen. Essen ist eine erstrangige Notwendigkeit, die vielen Stände rächen die mageren Jahre und verkünden stolz: Wir haben’s! Auf die anderen Stockwerken verteilen sich dann die zweitrangigen Waren, Kleidung, Bücher, Spielwaren, ein paar Artikel für Touristen, kapitalistisch natürlich, aber mit vielen leeren Stellen und einer gewissen Unsicherheit. Der Geruch von Brot und Croissants dominiert und wird selten von anderen Düften übertönt. In diesem geradlinigen, eckigen, schmucklosen Gebäude empfangen einen Socken, Taschen, Parfums, Uhren, Halstücher, Hüte und Schmuck, und alles riecht nach Brot, weil daneben die Lebensmittelabteilung liegt. Viele Lebensmittelstände behalten diesen Unterton nach Brot, unabhängig davon, was jeweils dort verkauft wird. An der Käsetheke herrscht der Geruch nach Brot und Käse, die Wursttheke riecht nach Brot und Salami, der Salat nach Brot und Salat, Pilze und Kartoffeln nach Brot und Erde, Schokolade nach Brot und Schokolade, Bonbons nach Brot und Zucker, die Leber durchbricht das Schema, verdrängt das Brot und verfolgt uns bis zum Fischstand, wo das Brot schließlich aufgibt. Im ersten Stock ist die Damenabteilung und wirkt etwas verlassen, mit all den exotischen Markennamen, die in der Originalsprache unmöglich klingen. Im zweiten Stock irren wir durch die Herrenabteilung, kombiniert mit den Schuhen, die nach Leder riechen, aber auch nach Gummi und Erdöl. Die Herren Kunden laufen hier in eher sportlicher Kleidung herum, viele haben das rechte Hosenbein hochgekrempelt oder durch ein Leuchtband zusammengehalten, offenbar sind sie gerade vom Fahrrad gestiegen. Im dritten Stock sind Damenunterwäsche, Bücher, Kinderkleidung und Souvenirs glücklich vereint. Die Ecke mit Souvenirs besteht aus einem alten Trabi, der in der Mitte durchgeschnitten ist, auf dem Fahrersitz ein großer Stoffbär, umgeben von Gegenständen aller Art, auf denen im besten Fall das Wort Berlin steht, im schlimmsten Fall ein I gefolgt von einem Herz und dem Wort Berlin. All diese Waren riechen nach Croissants. Wer weiß, warum. Wahrscheinlich sind im dritten Stock die Lüftungen für die Öfen, in denen sie gebacken werden. Es gibt keine andere Erklärung. Und der Geruch nach Croissants ist nur im dritten Stock. Ein Stock höher ist die Reiseabteilung, kombiniert mit Badekleidung, die nach Gummi riecht. Das Selbstbedienungsrestaurant im letzten Stock heißt Dinea, der Slogan lautet unverblümt „essen, trinken, genießen“. Das Essen macht einen guten Eindruck, die Preise sind moderat, der Blick über den Platz ist phantastisch, und doch sitzen hier nur wenige die essen, trinken und genießen. Für den, der direkt vom KaDeWe in den Kaufhof kommt, fallen Vergleiche und Urteile natürlich leicht. Das ist nur menschlich, und wir machen das auch, wenn wir es für richtig halten. Aber es gibt im Leben immer Überraschungen, und Urteile wie diese werden vom Winde verteilt. Eine besonders schöne Überraschung im Kaufhof sind zum Beispiel die Toiletten. Von hier hat man einen atemberaubenden Blick über das ehemalige Ostberlin, eine direkte Konkurrenz zur Reichstagskuppel. Der Fernsehturm liegt vor uns, der Bahnhof Alexanderplatz, das Rote Rathaus, Marienkirche, Dom, die beiden Kuppeln vom Gendarmenmarkt, die goldene Kuppel der Neuen Synagoge, das Hochhaus der Charité, eine Menge von bunten Kränen und Wohnhäuser wie Bienenstöcke. Der schönste Luftblick von Ost nach West.

Auf dem Weg nach unten freuen wir uns, eine neue Aussicht über Berlin entdeckt zu haben, es ist noch ein Geheimnis, das uns ganz allein gehört. Wir sind froh, dass es an den Kaufhof-Toiletten noch keine endlosen Schlangen, Eintrittskarten und Reservierungen gibt und verstehen nun auch, was mit „genießen“ gemeint war. Ein Geheimcode!

In Berlin ändert sich alles sehr schnell und früher oder später wird sich wohl auch der Alexanderplatz wieder ganz anpassen, die Lücken füllen und die Luft immer mehr einengen. Aber diesen Moment der zeitlichen Rückung, diese Luftblasen in der kompakten Masse des Kapitalismus sollten wir wahrnehmen und die Erinnerung daran wie ein wertvolles Gut hüten und weitergeben. Der Reiz des Platzes besteht eben in den gewaltigen Volumen und der vielen Luft, die ungehindert umherweht. Wie viel Wind in Berlin auch bläst, hier bläst er immer dreimal so stark, wie auf dem Ballonflug. Von der Luft her bleibt Alexanderplatz rätselhaft und verwirrend. Ein unbestimmbarer Ort, von der Geschichte gezeichnet, der sich rabiat an die Gegenwart klammert.

Wir verlassen den Platz und werfen einen Blick auf die frischeste Kirche von Berlin: die Franziskanerkirche neben dem Alex. Die gotische, dreischiffige Basilika aus dem Jahr 1250 ist heute eine Ruine, das fehlende Dach, die Verglasung und die Ostwand wurden nach der Bombardierung im zweiten Weltkrieg bewusst nicht wiederhergestellt. Die Bäume ragen mit ihren Ästen in die leeren Spitzbogenfenster und der Himmel spannt sich über die Reste des eleganten Ziegelbaus. Dies ist einer der ganz besonderen Orte in Berlin, an denen man über das Naturelement Luft nachdenken kann: die Luft durchweht den Ehrgeiz der menschlichen Gebilde ebenso wie das Elend der menschlichen Zerstörung. Wo wir schon bei Aufstieg und Niedergang sind, wollen wir unsere Beobachtungen mit der Luft beschließen, die in der Hauptstadt durch Produktion und Entsorgung entsteht.

Damit wollen wir die Stimmen dementieren, nach denen in Berlin nicht produziert wird. Nein, Berlin produziert, aber die Industrie in Berlin ist sanft. Aber beginnen wir damit, was Berlin zerstört. Um den echten Geruch einer Müllverbrennungsanlage zu riechen, begibt man sich zum Olympiastadion, an einem Tag ohne Veranstaltung. Der Geruch der Müllverbrennung würde sonst verdeckt von dem Dunst des Biers aus zigtausend Flaschen, dem Dunst des Biers aus zigtausend atmenden Mündern und dem Dunst des Biers wie es in zigtausend organisierten und improvisierten Pissoirs ankommt. Stärker als der Biergeruch am Olympiastadion ist nur der Biergeruch in den U-Bahnwagen voller munterer Fußballfans die zum Olympiastadion fahren. Eine unvergessliche Erfahrung.

Auch wenn kein Fußballspiel ist, lassen sich auf dem riesigen Platz vor dem Stadion interessante Ausdünstungen registrieren. Den Untergrund bildet der süßliche Geruch der Müllverbrennung, vermischt mit dem der Fabriken. Davon heben sich säuberlich getrennt die Abgase der Fahrzeuge ab. In einer verkehrsreichen Straße riecht man ganz undifferenziert den Gestank des Verkehrs, hier dagegen kann man die einzelnen Fahrzeugtypen systematisch voneinander trennen. Der große Vorplatz wird von den Fahrschulen für Motorräder, PKWs und Lastwagen genutzt. Die Motorräder fahren auf dem großen Parkplatz in der Mitte der Fläche zwischen reflektierenden Verkehrskegeln Slalom. Die Lastwagen mit Anhänger üben ihre Manöver auf der Seite in Richtung U-Bahn, während die Autos darumherum fahren und die angehenden Autofahrer jedesmal einen Schreck bekommen, wenn einer der Ferraris vorbeirast, die hier ihre Motoren einmal auf Touren bringen wollen.

Die Müllverbrennungsanlage ist in Wirklichkeit nicht direkt am Stadion, sondern zwischen dem Stadion und Spandau, an der Haltestelle der S5 Stresow. Die Firma für die Entsorgung der Berliner Abfälle heißt BSR, Berliner Stadtreinigung. Die BSR ist so dynamisch wie die ganze Stadt, ein effizienter Betrieb mit einer kreativen Marketing-Abteilung, deren Slogans zu Sympathieträgern werden. „So grün ist nur orange“ ist einer davon. Orange ist die Farbe der Müllwagen, der Arbeitskleidung der Angestellten und der Abfallbehälter, auf denen lustige Sprüche stehen und zum Sauberhalten der Stadt animieren. In Stresow ist ein Industriegebiet, hier werden Kacheln und Farben hergestellt, es gibt eine Raffinerie und eine Kläranlage. Viele werden den Geruch der süßlichen Gase kennen und mit einer Erinnerung oder einer mehr oder weniger giftigen Phase des Lebens in Verbindung bringen. Hier erhebt sich eine der beiden großen Müllentsorgungsanlagen von Berlin. Von Stresow verteilt sich dieser Geruch je nach Wind in alle Richtungen. Ein bisschen Industriearoma vernimmt man deshalb ganz zart auch in der Hauptstadt. Dabei ist diese Stadt eigentlich eine Wiege der industriellen Revolution. In den Jahren um 1900 gab es in der Hauptstadt eine Unzahl bedeutender Fabriken, die für die deutschen Industrieproduktion quantitativ und qualitativ Geschichte geschrieben haben. Die Teilung in Sektoren und die neue politische Ordnung der Nachkriegszeit brachten Berlin in eine wenig unternehmerfreundliche Sonderposition. Zunächst wurde die Stadt ganz klein gehalten, später half man ihr, wieder auf die Beine zu kommen, jedoch mit der Aussicht auf eine langsame Genesung und anhaltende Therapien. Die Politik formierte sich mit viel Geduld neu, aber viele mittlere und große Betriebe konnten den Heilungsprozess nicht abwarten und stellten sich anderswo neu auf. Und so werden die Arbeiter in der Hauptstadt immer weniger und der Geruch nach Fabrik reduziert sich auf wenige Gegenden.

Die Fabrikschlote sind vielleicht noch nicht vom Aussterben bedroht, werden aber doch eine Seltenheit, etwas, was man sehen und riechen muss, und vor allem etwas, was man dem Rest Deutschlands zeigen muss, sollte der Rest Deutschlands etwa klagen, dass wir hier schwächeln. Auch wir habe ein bisschen Rauch. Was das Feuer betrifft, können wir immer noch den Currywurstgrill exportieren.

Kurioserweise liegt an der S5, zwischen Olympiastadion und Stresow, der Bahnhof Pichelberg, an dem die Leute zu Tausenden aussteigen, um die Konzerte der Philharmoniker in der Waldbühne zu besuchen. Zwanzigtausend Leute spielen und singen zusammen, fröhlich und exaltiert: Das ist die Berliner

Luft, Ja, Ja, Ja, Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft, so mit ihrem holden

Duft, Duft, Duft, wo nur selten was verpufft, pufft, pufft, in dem Duft, Duft

dieser Luft, Luft, Luft, Das macht die Berliner Luft! Ob dann der Enthusiasmus und die Emotion aus den Poren der Zwanzigtausend, vermischt mit dem feuchten Duft des nächtlichen Waldes, den süßlichen Geruch aus den Fabrikschloten überdeckt?

6 Jahren vor