Winterfeldplatz, im März, Samstags zwischen 11 und 14 Uhr

Raffaela Rondini

Wir steigen beim U-Bahnhof Nollendorfplatz aus und durchmessen mit großen Schritten die Maaßenstraße, wo sich die Gerüche der typischen Berliner take-away-Billiggerichte vermischen. Pizza, Kebab, Würstchen, Chinesisch, nahöstlich Vegan begleiten uns bis zum Markt.

Wir betreten den Markt durch das Tor der Orangen, was kein Bauwerk ist, sondern eine Duftwand, errichtet von einem belebten Stand mit frisch gepressten Säften. Für einen Moment sind wir auf Sizilien.

Ein bunter Blumenstand lockt uns nach links, hoffentlich duften die Rosen. Aber duftende Rosen sind selten geworden, dafür sorgen die rosa, lila, gelben und weißen Hyazinthen für süße Noten in verschiedenen Abstufungen. Dann kommt gleich der Stand für Riechöle und Räucherwerk, mit dem typischen Rauch von Kohlen, auf denen sich durchdringende Himalaya-Düfte lösen.

Hartnäckiger als der Himalaya-Dunst sind die kräftigen Käse. Die Schals vom Stand nebenan müssen wohl damit auf unbestimmte Zeit impregniert sein.

Das Lederhandwerk ist eingerahmt von zwei Fischständen, gegenüber gibt es Biobutter und Käse auf Toastbrot: ein geruchlicher Schwerpunkt des ganzen Platzes.

Diesen Naturgewalten stemmt sich der Scherenschleifer entgegen mit seinem Schneidbrenner und dem trockenen Rauch des erhitzten Eisens.

Die Oliven sind aromatisch, und die unbehandelten Schafsfelle sollen ja so gesund sein, riechen aber nach Stall. Auf wenigen Quadratmetern fühlt man sich in Griechenland, und rieche da, dazu gesellt sich der leichte Rauch von gebratenem Fisch.

Wir haben das Ende der sehr intensiven linken Seite erreicht und bewegen uns nun nach rechts auf die Mitte des Platzes zu.

Kaum hat man die Frische von Salat gespürt, wird sie auch schon vertrieben von türkischem Börek, mit Spinat, Hackfleisch und säuerlichem Schafskäse gefüllte Teigtaschen. Der Geruch wird wieder schärfer, denn aus Pfannen entsteigen Dämpfe von Paprika und Auberginen. Doch den Nahen Osten verdrängt sogleich ein Stand mit  Honig und Bienenwachskerzen, und behauptet eine nordische Geruchsidentität.

Gleich neben dem Honig steht ein Stand mit Lederwaren: Geldbörsen, Taschen, Schlüsseletuis, aber aromatisch am relevantesten sind die ledernen Schnürsenkel, die in dicken Bündeln herumhängen.

Noch mehr Leder: diesmal Handschuhe, und man fühlt sich wie in Florenz*.

Gegenüber den Handschuhen die frischen Noten des Marktes: Äpfel, Kartoffeln und Petersilie aus der Region.

Die Äpfel haben richtig Charakter: ihr kräftiger und feiner Duft dominiert, die Petersilie verneigt sich vor ihnen und die Kartoffeln verraten ihre Herkunft durch den Geruch nach frischer Erde. Bravo: ein gut eingespieltes Trio.

Wir befinden uns in der Nähe der St.-Matthias-Kirche, einer der wenigen katholischen Kirchen Berlins. Wir treten ein. Wenn man die Augen schließt, ist man in Rom. Der warme Duft brennender Kerzen und die flüchtige Reminiszenz von Weihrauch. Das Taufbecken ist zwar trocken, aber der Geist des Weihwassers ist geblieben. Es ist schon beeindruckend, so weit vom Vatikan eine so präzise Geruchsspur zu finden. Aber so ist sie, die katholische Kirche, die Universalkirche: eine perfektes Markenzeichen, das weltweit erfolgreichste Franchising. Hinter der katholischen Kirche steht der größte buddistische Stand des Marktes. Der Weihrauch hier riecht kräftiger als der in der Kirche.

Wir gehen wieder in Richtung U-Bahnhof und kommen in den rechten Außenbereich des Marktes. Hier haben türkische Händler ihre großen Obststände. Die Waren stammen alle aus fernen Ländern und Jahreszeiten, man spürt die exotischen Düfte von Melonen, Papaya, Mango, Avocado und Erdbeeren.

Einen besonders erhabenen Geruchsmoment erzeugt das türkische Trockenobst: die Karamellnote von Ananas, Aprikosen,  Pflaumen, Feigen, Rosinen, ja sogar Melonen steigt einem zu Kopf und sorgt für unmittelbares Wohlbefinden.  Vielleicht werden dadurch ja süße Kindheitserinnerungen geweckt.

Nüsse aller Art bewachen das Trockenobst und verteidigen das Geruchsparadies.

Die Gewürzpflanzen erweisen sich als ohnmächtig gegenüber dem gewaltigen Rauch der Thüringer Bratwurst, unangefochten ist ihre Herrschaft und die ihres ständigen Begleiters, dem Senf.

Ein Lieferwagen verkauft nur deutsche Kartoffeln in mindestens zehn Sorten: wieder der Geruch nach frischer Erde und eine lange Menschenschlange.

Der Klassiker unter den deutschen Gemüsen, der kleinste gemeinsame Nenner in bundesrepublikanischen Kochtöpfen  ist seit jeher der Bund Suppengrün, in seiner unveränderlichen Zusammensetzung aus Möhre, Lauch, Sellerie und Petersilie. Ausländer blicken da schon mal verächtlich, den echten Deutschen erkennt man an seiner Treue zum Suppengrün.

Wir kommen zu einem Stand, an dem Schüsseln und Küchenbretter aus Ahorn und Lindenholz gefertigt werden. Das feine Aroma einer solchen Schüssel aus sanftem Lindenholz ist eine erfreuliche Überraschung. Zu Hause kann man sich dann vorstellen, in Unter den Linden spazieren zu gehen, aber diese Vorstellung ist derzeit vielleicht gar nicht so erstrebenswert. Die bezaubernde Flaniermeile wird nämlich gerade von enormen Baumaschinen ausgeweidet und soll ganz anders werden. Für Berliner ist Unter den Linden deshalb jetzt ein Alptraum. Monatelang mussten Benutzer der U6 zwischen den Stationen Friedrichstraße und Französische Straße aussteigen und die aufgerissene Straße überqueren, Busfahrgäste müssen die Spur wechseln, Fahrradfahrer müssen zwischen Touristen und Bauzäunen herummanövrieren, und Fußgänger sind völlig vor den Kopf gestoßen. Dann ist die Schüssel aus sanftem Lindenholz vielleicht doch nicht das richtige, sie könnte uns die Laune verderben.

Wir befinden uns jetzt unter dem malerischen türkischen Schirm, goldbestickt und mit weißen Troddeln, in Begleitung zweier märchenhafter Gestalten aus Tausend und einer Nacht, die uns türkischen Tee servieren, und einen unglaublich aromatischen Kaffee, der mit Zucker direkt in der Tasse auf einem Kohlenfeuer köchelt. Der Duft, und mehr noch der Geschmack von Zucker und Gewürzen entführen uns direkt nach Persien.

Wieder ein anderer Duft kommt von einem türkischen Stand mit Obstsäften aus Apfel, Möhre, Grapefruit und Orange: der Duft der Gesundheit und des Optimismus, der uns ewige Jugend verheißt.

Und mit dieser Hoffnung verlassen wir den Markt, nicht ohne uns vorher die Schuhe mit reinem, duftendem Bienenwachs putzen zu lassen: das beste Geschenk, was wir unseren Schuhen je machen konnten. Wir verlassen den Markt dort, wo wir ihn betreten haben, nämlich durch das Tor der Orangen, aber wir sind verändert. Die Gerüche haben uns in ferne Länder gebracht und verloren geglaubte Erinnerungen zurückgeholt. Wir kehren zurück zur U-Bahn und gehen zum nahegelegenen Wittenbergplatz. Hier ist am Mittwoch, Donnerstag und am Freitag Markt, aber heute ist Samstag, und wir wollen das berühmte KaDeWe besichtigen, das Kaufhaus des Westens, eröffnet 1907.

Übersetzt von Christoph Timpe

6 Jahren vor