Eigentlich wollten wir auf der Museumsinsel bloß einen unverfänglichen Spaziergang durch die Zeit machen. Aber wie so mancher, der sich mit der Zeit befasst, wurden auch wir von einer Art Fluch heimgesucht: wir haben uns verlaufen. Auch wenn wir nicht Nietzsche, Schopenhauer, Kant oder Einstein sind, so haben wir doch begriffen, dass wir einfach zuwenig wissen. Ja, wir hatten Spaß, das schon, und vielleicht war das ja auch unser Ziel, obwohl wir uns auch damit nicht mehr sicher sind. Nichts ist mehr sicher. Die Geschichte scheint uns unendlich, der Mensch scheint sich wie das Universum in alle Richtungen auszudehnen, wir wissen nicht mehr, wie viele Geschichten des Menschen es überhaupt gibt, ob wir vielleicht immer noch dieselben Urmenschen sind, oder ob unsere Reise je ein Ende nimmt.
Wir haben zwar von der Zeit nichts verstanden, atmen jetzt aber freier über längere Zeiträume, eine geheimnisvolle amphibische Mutation muss uns unbewusst verändert haben, und vielleicht gelangen wir auch zu demselben Ergebnis wie Einstein: Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.
Auf dem grossartigen Treppenaufgang der Alten Nationalgalerie treffen wir, zwischen dem zweiten und dem dritten Stock, auf eine Holzplastik von 1917 mit dem Titel Portrait der Schimpansin Missie. Die Figur kauert auf der Balustrade, blickt nachdenklich den hinaufgehenden Leute nach und hält die Arme vor dem Schoß gekreuzt.
An was Missie wohl denkt lässt sich mit wissenschaftlicher Sicherheit nicht ermitteln, ebenso wenig lässt sich ausschließen, dass auch sie über die Wicklungen und Entwicklungen, und über die Unendlichkeit der Zeit spekuliert.
Vor einem Schaukasten im Saal 308 des Neuen Museums wird uns eine männliche Figur aufgefallen sein: eine Art Waldschrat oder wilder Mann, dicht behaart, mit Tierfellen bekleidet, und – bei allem Respekt – Missie an Grazie durchaus unterlegen. Er hält in seiner Pranke eine kleine weibliche Statuette mit deutlich hervorgehobenen Brüsten und Hüften, ein Fruchtbarkeitssymbol.
Fünfunddreißigtausend Jahre vor Christi Geburt schnitzten Menschen Flöten aus Tierknochen und formten Statuette von Tieren und vor allem von Frauen.
Wir haben sicher auch gelesen, dass es sich bei der Statuette in der Pranke des wilden Mannes um die Venus von Dolní Véstonice handelt, die 30.000 Jahre vor Christi Geburt, also in der Eiszeit geformt wurde. Dabei konnten wir mit Rührung feststellen, dass die Höhlenmenschen, also vor jeder anderen Fertigkeit oder jeder Zivilisation, bereits zu kultischen Zwecken und zum Schutz der Fruchtbarkeit weibliche Statuetten herstellten. Im gegenüberliegenden Saal 306 wurde klar, dass der Krieg erst mit der Bronzezeit entstand. Diese eiszeitliche Venus ist also älter und historisch bei weitem bedeutsamer als der Krieg.
Sich hier auf der Insel in den Erzeugnissen unserer Vorväter zu spiegeln, um festzustellen, ob wir uns in ihnen wiederfinden, ob wir heute noch dieselben Ambitionen, Ängste, Leidenschaften haben, das wäre ein echter Moment der Gnade.
Schöner noch als Kenntnis, Verständnis und Urteil ist wahrscheinlich ihr bloßer Anblick, sich einfach so wundern, ohne zusätzliche Wünsche.
Wenn zwischen uns und dem betrachteten Gegenstand keine Störung tritt, dann besteht die Chance, dass sich die zeitliche und kulturelle Distanz aufhebt, die uns von der Vergangenheit trennt, und dass wir die Nachricht von unseren Vorfahren klar und deutlich empfangen. Epiphanien nennt man das, Erscheinungen, die gleichzeitig Offenbarungen sind. Schön oder hässlich, die Grenze zwischen richtig und falsch, der Punkt, an dem Mensch und Natur im Gleichgewicht sind, oder an dem der Fortschritt aufhört und die Aggression beginnt, das alles sind kontroverse und immer neu auszuhandelnde Themen. Jedes Urteil ist ein Kind der eigenen Zeit, es kommt und geht mit dem Mond und den Gezeiten. Kennenlernen setzt die Bereitschaft zu beobachten voraus, das Band zwischen den Generationen, den Völkern, den Sprachen zu erfassen, ein Band, dass die Erwachsenen Kultur und die Kinder Abenteuer nennen. Und auf dieser Insel kann man lesen, schauen, sich wundern, und zum Spiel den Wolken nachblicken, man kann sich auch informieren, aber wertvoller wäre es, mit demütiger und seeliger Unwissenheit herzukommen und sich von der sanften Unerschütterlichkeit des Dilettanten so lange wie möglich umfassen zu lassen.
Die roten Audioguides der Dauerausstellungen sind bislang nur für Erwachsene vorgesehen. Für Kinder sind sie aber keineswegs verboten, denn ihre Sprache ist klar und einfach. Anlässlich der letzten Ausstellung über Impressionismus und Expressionismus konnte man die netten Audioguides junior hören, die extra für die Ausstellung gemacht wurden. Hier sprechen Berliner Kinder, die sich an ihre Gleichaltrigen wenden, deren offenherzige und phantasievolle Kommentare viel Spaß machten. Die Kleinen wendeten ihre Äuglein den Details zu, wunderten sich über Farben, spielten Ich sehe was, was du nicht siehst, bauten im Geist Schneemänner und fuhren Schlitten, wenn sie eine Winterlandschaft sahen, rochen den Duft in der Sonne trocknender Wäsche bei einem Bild oder hörten die Vögel singen bei einem anderen, versuchten herauszubekommen, ob die Augen auf einem Bild gerade geweint hatten, weil sie glänzend und gerötet schienen, fragten sich nach dem Grund dafür und erfanden Geschichten dazu, sie fühlten sich selber als Maler und erzählten, was sie gerade gemalt hatten, zitterten buchstäblich vor Angst, wenn sie etwas Unheimliches sahen, verglichen die Kinder des Malers Fritz Rumpf, 1901 von Lovis Corinth in der Familie Rumpf portraitiert, mit ihren eigenen Geschwistern und fragten sich, wie die Rumpfs wohl das Rechtsproblem gelöst haben, das bei Verteilung von Bonbons unter den sechs Kinder entstehen musste, und besprachen dann ganz unbefangen ihre eigenen Probleme, als sei alles möglich und alles erlaubt.
Etwas wie diese ungezwungene Haltung dem Staunen und der Freiheit gegenüber, das ist das Beste, was man sich wünschen kann, um in die zarte, empfindliche Zeit des Zuhörens zu gelangen, und die stumme Erzählung der Werke der Vergangenheit zu vernehmen, einer Vargangenheit, die hier sehr präsent ist.
Verabschieden wir uns, voll von Anmut und Staunen, mit der Marmorfigur der Hebe, Göttin der Jugend. Hebe ist eine der zahlreichen Kreaturen des fruchtbaren Zeus und Mundschenk der Götter des Olymp, denen sie den Nektar der Unsterblichkeit darreicht. Die Statue wurde 1796 von Antonio Canova geschaffen und ist im Saal 1.01 im ersten Stock der Alten Nationalgalerie aufgestellt, dort befinden sich die klassizistischen Skulpturen, rein, weiß und schön, aus einer Zeit, die sich die Wiederbelebung der Eleganz einer allzu mythisierten Klassik zum Ziel setzte. Mit bloßem Oberkörper, jungen, kaum ausgeprägten Brüsten, unbeschwert und doch bewusst, weicht ihr Blick in die Ferne und verinnerlicht doch alles. Das Kleid beginnt an den Hüften und wird von einem Luftzug bewegt, der es an ihre Beine schmiegt. Mit großer Weichheit deutet das Mädchen eine Bewegung gegen den Luftzug an, von innerer Grazie nach vorne und nach oben getragen. Die physische Präsenz des Oberkörpers, der Arme und der straffen Beine verankern sie in unserer Mitte. Mit dem rechten Arm erhebt sie die schwerelose Amphore, während der linke weiter unten die Trinkschale hält, in die sie ganz langsam den Trunk der Unsterblichkeit einschenken wird. Fern und doch präsent, die Locken durch ein elegantes, mit Lilienmotiven verziertes Band locker gehalten, schwebt schwerelos Hebe, die Tochter des Zeus, Mundschenk der Götter, sinnlich und keusch, auf wunderbare Weise unzeitlich.
( Übersetzt von Christoph Timpe )