Jede Stadt ist von der Zeit gezeichnet. Berlin ist eine Stadt mit viel Lebenserfahrung, aber besonders alt ist sie nicht. Wie gesagt, die Museumsinsel ist mit ihren gerade mal zweihundert Jahren noch ziemlich jung, während die Manufakte, die sie in ihren Ausstellungen birgt, zum Teil bedeutend älter sind. Vertieft man sich in die Betrachtung der Exponate, begibt man sich jedes mal auf eine Art Zeitreise, jeder Saal katapultiert einen in eine andere Epoche. Man liest in den begleitenden Texten etwas über die Geschichte der verschiedenen Kulturen, und schon kommen einem die eigenen zeitlichen und örtlichen Koordinaten für den Moment abhanden.
Denn ein Museum ist auch das: ein Insel außerhalb vom Heute und ein Weg in die Ferne.
Im Erdgeschoss des Neuen Museums sind im Saal 104 Teller und Vasen des Schatz des Priamos ausgestellt, wie gesagt nur die weniger wertvollen Stücke, die anderen haben ja vorgezogen, in Russland zu bleiben. In dieser Gegend des Museums hört man lautes Klappern von Geschirr, das wie eine akustische Sinnestäuschung wirkt, bis man merkt, dass das Geschirr in der Cafeteria Allegretto in Gebrauch ist. Von diesem gepflegten und bei betuchter Kundschaft sehr beliebten Ambiente blickt man von der einen Seite auf die Straße, wo oft die Busse der Touristen parken, und von der anderen in den schönen Saal mit dem flachen Gewölbe.
Auch die Cafeteria gewährt also einen Blick auf das Leben im Museum, wobei die Möglichkeiten der Nutzung so vielseitig sind wie die Vorlieben der Besucher selber, keine ist besser als die andere, alle sind gleichermaßen berechtigt und verdienen dieselbe Anerkennung.
Das Museum mit seinen Exponaten und seiner Architektur, und die Besucher mit ihren Körpern und ihrem Kaffee setzen gemeinsam eine Komposition in Szene, in der sich Vergangenheit und Gegenwart wie durch Wunder zu einer magischen Zeit vereinen, wobei der Wirbel der Geschichte zwar zweifellos Hauptdarsteller ist, Gegenstände und Personen aber abwechselnd die Bühne betreten und dabei immer neue Zeiten, Stile, und Zusammenhänge darstellen.
Man kann die Besucher beobachten wie die Darsteller in den Szenen eines unendlichen Films: manche sind so eingebunden in ihre persönlichen Belange, dass sie die eigene Begrenztheit gar nicht wahrnehmen, andere lassen sich ein auf die Mystik, den Traum und die Traszendenz und spüren den ganzen Kosmos in sich. Aber es bleibt eben eine Darstellung.
Wir befinden uns jetzt in einem der inspirierendsten Säle des Neuen Museums mit der Nummer 311, im dritten Stock. Die pompejanisch roten Wände, die schönen alten schwarzen Schaukästen mit dünnem, leicht gewelltem Glas und der Geruch nach altem Holz sind der perfekte Rahmen, um uns unvermittelt in die Welt der Museen des 19. Jahrhunderts zu versetzen. Der Raum heißt Saal der historischen Sammlungen, er enthält Teile von Sammlungen berühmter Gönner, die zur Ausstattung der Museen beigetragen hatten. Hier tauchen aus der Vergangenheit große Namen auf, Geschichten innhalb der Geschichte, Erinnerungen an Mühen und Leidenschaften, Hingabe und Geistesblitze, und viel, viel Arbeit. Der Blick aus dem großen Fenster wirkt wie ein Spott: Die Fahne auf der Alten Nationalgalerie, der Fernsehturm und Plattenbauten erinnern uns, dass die Ausstattung in diesem Raum eine Fiktion ist, gestellt sozusagen durch Statisterie der zahlreichen Besucher.
Die schlaueren unter ihnen wissen das, sie halten zu dem Museum seit jeher eine gesunde Distanz. Die Jugendlichen auf Klassenfahrt blicken schräg in die Schaukästen und blinzeln misstrauisch mit den Augen, nicht etwa aus Zweifel an der Echtheit der Exponate, sondern um sich zu spiegeln und dabei das Haargel zu überprüfen, oder um sich zu vergewissern, dass ihre Flamme nicht gerade hinterrücks mit jemand anderem flirtet. Nein, alles in Ordnung, die Flamme sendet ihr Lächeln mit Zahnspange dem selben Schaukasten zu. Oder spiegelt sich darin vielleicht noch jemand anders?
Und so wandelt sich das Museum vom Spiegel einer fremden Vergangenheit in einen Spiegel unseres täglichen Lebenstheaters, versetzt uns unversehens wieder ins Hier und Jetzt, genau wie die großen Fenster des gründerzeitlichen Saals, die aus erhöhter Warte den Blick auf sozialistische Plattenbauten lenken.
In diesen Sälen sind wir alle zu Hause, ob jung oder nicht, aus Berlin oder von außerhalb, gebildet oder ungebildet. Wir können unseren persönlichen Standpunkt frei wählen, die Dinge von oben, von unten, schräg oder wie auch immer betrachten, wir können gerne alle erlaubten interaktiven Knöpfe drücken, und uns von den Löchern in der Mauer inspirieren lassen. Denn es geht hier um uns, um die gesamte Menschheit, wir sind hier als Schauspieler willkommenen, egal, ob wir aus der Vergangenheit kommen oder im Leben stehen, ob wir anonym oder irgendwie einzuordnen sind.
Manchmal werden ganz pfiffige Touristen hergebracht, die wie zweidimensional scheinen. Man sieht ihnen an, dass sie nur mit einem Auge, einem Ohr und einem Bein im Museum sind, der andere Teil ist anderswo beschäftigt. Ihnen gilt unser ganzer Respekt, denn wahrscheinlich sind sie es, denen die natürliche Auslese die Erhaltung der Spezies anvertraut.
Andere Besucher kommen auch mal ganz spontan, selbst wenn es nicht regnet. Sie lassen sich von den Dingen und Geschichten anziehen, verzaubern, in eine andere Welt entführen. Diese letzteren sind es auch, die leicht mal in einem Saal untertauchen, vor einem Bild buchstäblich vergehen, oder sich in eine Statue verlieben. Sie scheinen aus der Gegenwart zu verschwinden, um direkt in ein Bild oder eine gefühlte Zeit einzutreten. Man hat dann Mühe, sie wieder in die Realität zurückzuholen.
Direkt unter dem Saal der historischen Sammlungen befindet sich der schon erwähnte Saal 211, die Bibliothek der Antike oder Niobidensaal, der wie durch Wunder vom Krieg verschont blieb. Die ursprüngliche Opulenz ist perfekt erhalten, zwei Paare weißer Karyatiden, Kopien aus der Villa Albani in Rom, tragen mit monumentaler Geste die Architrave der beiden Türen. Die Wände sind im unteren Bereich blau, im mittleren Bereich pompejanisch rot, und oben verläuft ein aufwändiger Fries, der Fußboden besteht aus einem Mosaik mit Weinblättern und roten und blauen Steinen. Die Decke ist eine kassettiertes Flachgewölbe aus Hohlziegeln, das von Architraven getragen wird, ähnlich denen im Saal der historischen Sammlungen. Sie wurden von der damals hochmodernen Lokomotiv-Fabrik Borsig aus jeweils sieben zusammengeschweißten und vergoldeten Rundeisen hergestellt, eine dem sandigen und sumpfigen Untergrund geschuldete, besonders leichte Konstruktion.
Ebenso wie in dem Saal darüber blickt man auch hier aus fünf großen Fenstern auf das Berlin von heute.
Es wurde hier schon gesagt, dass man in dem Saal uralte Texte ansehen kann, und auch, wie aktuell der Mythos des Prometheus ist, der auf dem Fries über dem Nordportal dargestellt ist.
Mit dem furchtbaren Mythos der Niobe hätten wir uns dagegen lieber nicht belasten, ihm sind die Fresken des Saals gewidmet. Aber der verstörenden Unrast der menschlichen Natur sollten wir doch Rechnung tragen.
Niobe, die Königin von Theben, rühmte sich der Sage nach, sieben Töchter und sieben Söhne zu haben. Leto dagegen, Zeus‘ Geliebte, hatte lediglich zwei Kinder, Artemis und Apollo. Und Artemis tötete sämtliche sieben Töchter der Niobe, um die Schmach ihrer Mutter zu rächen. Niobe verkündete daraufhin, ihre verbleibenden sieben Söhne seien immerhin mehr als zwei. Also tötete Apollo auch die sieben Söhne, und stellte so die Ehre seiner Mutter wieder her. Niobe, begreiflicherweise von Trauer zerstört, begann verzweifelt durch ganz Lydien zu ziehen und bat schließlich Zeus, sie in einen Stein zu verwandeln, um ihrer Qual ein Ende zu setzen. Zeus kam dem Wunsch nach, aber aus dem Stein fließen nach wie vor Tränen.
Von der gramvollen Vorstellung der versteinerten Mutter, die in Lydien ihre Tränen vergießt, suchen wir Trost im benachbarten Saal 201. Er ist Bacchus gewidmet und trägt an den Wänden Spuren der ursprünglichen lila-weinroten Farbe sowie heiterer Fresken. Die Bronzestatue des sogenannten Xantener Knaben trug ursprünglich ein Tablett und stellte einen Knaben dar, der an einem Bankett serviert. Xanten, am Rhein in der Nähe des heutigen Düsseldorf gelegen, wurde kurz vor Christi Geburt von den Römern mit dem Namen Castra Vetera in der Provinz Germania Inferior gegründet. Werner Böcking erzählt in seinem schönen Buch „Die Römer am Niederrhein“, die Statue sei 1858 von sechs Lachsfischern mit großem Erstaunen aus dem Rhein gefischt worden. Zunächst hätten sie den Fund gegen ein paar Flaschen Whisky tauschen wollen, wären dann aber auf die Idee gekommen, ihn gegen geringes Geld der neugierigen Dorfgemeinschaft zu zeigen: 10 Pfennig, um ihn mit einem Schleier um die Lenden zu betrachten, 20 Pfennig für die Statue, wie sie war.
Vom Saal 201 aus erschließt sich dem Auge eine wundervolle Perspektive: man sieht die großartige Treppe, die in der Mitte nach unten in den ersten Stock führt, und die beiden monumentalen Treppenrampen an der Seite, die die mittlere einbeziehen und vom zweiten ins dritte Stockwerk führen, von dem aus sich gegenüber die große Loggia öffnet.
Das ist die Stelle, von der aus man vielleicht den besten Überblick über die wunderschöne Restaurierung im zentralen Bereichs des Gebäudes bekommt. Eigentlich ist die Treppe viel zu attraktiv, um sie nicht sofort rauf und runter laufen zu wollen. Trotzdem wäre es jetzt schön, seitlich nach links zu gehen, zu dem benachbarten Saal 202, dem der Römischen Provinzen. Wer jetzt noch nicht von der Größe Roms überzeugt ist, der findet hier einschlägige Informationen, die das Ausmaß des Reiches vor Augen führen. Man erfährt, dass im 2. Jahrhundert n. Chr. die 40 römischen Provinzen von über 50 Millionen Menschen aller Sprachen und Herkunft bevölkert waren. Neben ihren eigenen Traditionen kamen diese Menschen in Kontakt mit den Bräuchen, dem Rechtswesen, den Speisen und Getränken der Römer, mit ihrem Totenkult und ihrem Bauwesen. Ein weiteres Indiz für die römische Potenz besteht im Einfluss der lateinischen Sprache, die in all den unterworfenen Kulturen ihre Spuren hinterlassen hat. Interessant ist auch, dass die östlichen Provinzen des Reichs im Wesentlichen der griechisch-hellenistischen Kultur verpflichtet blieben, die Römer beschränkten sich hier auf die Einführung einer einheitlichen Verwaltung und Justiz, griechische Lebensart und Bräuche blieben wohlgelitten bestehen.
Von dem schönen römischen Saal mit seinen Resten klassizistischer Fresken gelangt man in den Saal 203, die den römischen Göttern gewidmet ist. In diesem Saal ist auf einzigartige Weise die im 2. Weltkrieg zerstörte Süd-Kuppel rekonstruiert worden. Die Wände aus unverputzten Ziegeln kommen nach oben hin aufeinander zu und werden dabei immer runder, eine allmähliche Metamorphose und absolut moderne Herausforderung der Gesetze der Statik. Das Tageslicht trifft aus der Höhe der Laterne auf die riesige Statue des Apollo, dem Gott des Lichts. An dieser besonderen Stelle blicken wir zurück und sehen in eine Flucht von Galerien, die wir soeben durchlaufen haben: der Saal der römischen Provinzen, der Saal des Bacchus, die Bibliothek, und am Ende wird in der Ferne, dem Apollo genau gegenüber, Nofretete sichtbar. Der römische Sonnengott und die ägyptische Sonnenkönigin blicken sich an, getrennt von Jahrhunderten Geschichte.
Während es die Sonne bekanntlich nur einmal gibt, hat die Geschichte der Menschheit nach und nach eine Unzahl von Sonnen-Gottheiten hervorgebracht.
Alle Völker haben immer wieder den Himmel beobachtet, auf der Suche nach einer Einteilung der Zeit und nach Anhaltspunkten in ihrer Welt voller Unabwägbarkeiten. So bietet der Himmel seit jeher Lösungen, von denen Wissenschaftler und Astronomen ja auch viele schon entdeckt haben. Die Luft über uns, mit ihren Farben und ihrer immer wieder neuen Beschaffenheit, bietet dagegen im allgemeinen Bewusstsein nach wie vor Anlass zu echtem Staunen, zu Gefühlen, die uns spielend über die Grenzen des Alltäglichen hinwegheben können.
Alle Epochen, Religionen und Kulturen haben sich also ausgiebig mit dem Himmel beschäftigt, und unsere Insel hat die Ehre, als Vertreter einer nicht sehr fernen Epoche und sozusagen in der Rolle besonderer Beobachter die vor-romantischen und romantischen Maler zu beherbergen. Eine eigene Richtung innerhalb der europäischen Kunst zwischen 1780 und 1840 stellten die Wolkenstudien dar. Die Beobachtung des Lichts und des Himmels gilt einem lebendigen und stets sich bewegenden Motiv, Symbol der Sehnsucht nach Erhabenheit, nach dem Absoluten, ersehntes Ziel aller sensiblen Kreaturen, denn der Geist strebt immer in die Höhe, und wählt den Himmel als ewige Herberge. Goethe selbst war beispielsweise fasziniert von den Studien des englischen Apothekers Luke Howard, der als erster die vier möglichen Wolkenformationen detailliert beschrieben hat. Nach Howard kann der Himmel mit Zirruswolken bedeckt sein, lockeren Fasern aus Wasserdampf, die sich geschmeidig und parallel zueinander in alle Richtungen erstrecken und ausdehnen; mit zusammenhängenden, horizontalen Stratuswolken, die von unten wachsen; er kann Kumuluswolken aufweisen, konische oder konvexe Haufen, die von einer bestimmten Höhe an aufsteigen; oder schließlich von Nimbuswolken bedroht werden, düsteren Wolkensystemen, die Regen hervorbringen.
Einige Studien von Nimbuswolken von Johann Christian Clausen Dahl aus dem Jahr 1834 sind im Saal 3.08 im dritten Stock der Alten Nationalgalerie zu sehen, ebenso wie viele Himmel und viele Wolken, luftige und helle, oder auch bläulich-finstere, überall und nicht nur in der romantischen Malerei.
Neben der schon erwähnten Beschleunigung der modernen Zeiten gibt es hier ein weiteres Spiel zur Unterhaltung der Kinder, Spiel und Ernst zugleich: hier kann man entdecken, welches Wetter im Kopf eines Malers herrscht: ein kleiner Hauch, und schon ist die Stimmung eine völlig andere.
Die Maler der Romantik tauchten ihre Pinsel gerne in den Himmel, oder auch in natürliche Landschaften, die den Hintergrund zum menschlichen Schaffen bildeten. Der Kontrast zwischen dem ewig gleichgültigen Gang der Naturphänomene sowie dem Staunen über die Schönheit Gottes und seiner Schöpfung, und der Hinfälligkeit alles menschlichen Tuns wird dadurch symbolisch zum Ausdruck gebracht. Kathedralen, Kirchen, Burgen, oft als Ruinen dargestellt, symbolisieren die Zeit des Menschen, und dann unendliche Wasserflächen, wie Meere mit weiten Horizonten, oder auch kleinere, ruhige Wasserläufe, die gleichwohl tief sind und Tod bedeuten, aber auch Wiedergeburt, und schließlich wie gesagt Himmel, riesige Himmel, Sehnsucht nach Gott und nach kosmischer Einheit und nach Überwindung aller Zweiheit.
Im zentralen Saal 3.05 im dritten Stock der Alten Nationalgalerie befinden sich zahlreiche Beispiele für romantische Malerei mit all ihren typischen Merkmalen: der letzte Grad der Schönheit wird angestrebt durch die Überwindung des Gegensatzes zwischen Natur und Kultur, Spontanität und Erziehung, zwischen Freiheit und Regel. Diese Pole sollen dank einer übergeordneten natürlichen Ordnung zusammenfinden. In dem Schloß am Strom von Friedrich Schinkel aus dem Jahr 1820 sehen wir uns einer märchenhaften Landschaft gegenüber. In der Mitte steht ein großer Baum, als ob die Natur sich über das Schloss erheben wollte, das lediglich im Mittelgrund steht. Auf dem Baumstamm erkennt man eine Zielscheibe. Weinstock, Taube und Kirche sind allesamt Symbole für das Überirdische, das Grab gemahnt an das Ende der menschlichen Dinge, während der würdevolle Hirsch in die Ferne blickt. Das Schloss ruht auf einem steilen Felsen hoch über dem Fluss. Ein Segelboot fährt in der Ferne, eine Fähre mit Passagieren ist dem Betrachter näher. Hier und da kleine spitze Türme, zwei Kinder ernten den Wein. Ein großes Abbild vom Leben und vom Tod, von Bewegung und Ruhe, von Auf- und Abstieg, kurz, ein wundervolle, allumfassende Synthese. Das zentrale Licht strömt warm hinter dem Baum hervor, die Wolken sind luftig, aber die Bäume verdecken die Sonne und einen Großteil des Himmels.
Das Thema der Zusammenfügung von Realem und Idealem, von Kunst und Natur, von Willen und Instinkt finden sich außerdem in der schon erwähnten Gotische Kirche auf einem Felsen am Meer von 1815 sowie dem Gotischen Dom am Wasser von 1813 wieder, beide ebenfalls von Schinkel. Sie sind im selben Saal nebeneinander ausgestellt. Das erste Bild zeigt einen wunderschönen Himmel, das rosa Licht des Sonnenuntergangs beleuchtet auch hier alles indirekt von hinten. Im zweiten Gemälde bildet Licht und Schatten der Wolken einen Kontrast zum Hell und Dunkel der Luft. Im Vordergrund des Gotischen Doms am Wasser sind verschieden menschliche Tätigkeiten dargestellt: Männer entladen ein Schiff, ein Matrose trinkt mit seiner Schönen, am Ufer unter der Kirche ergehen sich Leute, an der Anlegestelle daneben liegen Schiffe. Die gewaltige Kirchenkonstruktion links sticht mit seinen spitzen Türmen in den Himmel, rechts davon schließt sich eine Brücke an, die mit ihren riesigen Bögen den Fluß überwindet und die Masse der Kirche mit dem Stadtteil am linken Bildrand verbindet. Außerdem vermittelt die Brücke in vertikaler Richtung zwischen der Wasseroberfläche und dem darüber liegenden weiten Himmel.
Ein makelloser Himmel ohne die kleinste Wolke bildet den Hintergrund zum dem lichtdurchfluteten Turm des Mailänder Doms, Meisterwerk aus Licht von Johann Karl Schultz aus dem Jahr 1829: ultimative Darstellung des Unendlichen durch das göttliche Licht.
Ein ganz anderes Beispiel himmlischer Vielfalt findet sich im nahe gelegenen Bode Museum. Dort kann man die Großmutter Jesu besuchen: Anna für die evangelischen Konfessionen, Sankt Anna für die Katholiken. Die berühmte Skulptur aus dem Jahr 1500 von Tilman Riemenschneider trägt den unschuldigen Titel Die Hl. Anna und ihre drei Ehemänner, und stellt neben Anna die drei Männer einfach gleichzeitig dar, obwohl die fromme Frau hintereinander mit ihnen vermählt war, nämlich Joachim, Großvater von Jesus und Vater der Madonna, Cleofa, Vater der zweiten Maria und Salomas, Vater der dritten Maria.
Der Besuch bei Sankt Anna wirft uns in wieder eine andere, unerwartete zeitliche Dimension. Maria die Mutter Jesu hatte nämlich nicht nur zwei gleichnamige Schwestern, sondern sie war selbst verschiedene Marien, je nachdem, in welchem historischen und künstlerischen Kontext sie dargestellt wurde.
Im Bode Museum lassen sich viele wunderbare Marien bewundern, und jede scheint einerseits immer dieselbe, andererseits aber jeweils eine andere Geschichte zu erzählen. Marien mit verschiedener Kleidung, Antlitz und Haltung, allesamt Töchter religiös geprägter Jahrhunderte, wobei „religiös“ epochale Momente wie Kreuzzüge, Reformation und natürlich Inquisition mit einbezieht. Wir sehen heitere Marien mit den rundlichen Gesichtern des Quattrocento, volksnahe gotische Marien mit länglichen Gesichtern, ganz junge und zarte Marien, Marien mit tiefer Ahnung und barocke Marien, die aussehen wie Statuen aus Wachs, triefend vor Tränen und Schmerz.
Über jede Statue, jedes Bild oder Relief könnte man lange reden. Im Bode Museum sind Gottesmütter aus dem Zeitraum zwischen 300 und 1800 ausgestellt, unser Blick umfasst also fünfzehn Jahrhunderte Kunstgeschichte der Welt auf engem Raum.
Wir können hier nicht im einzelnen auf alle eingehen, aber eine Runde zu ihrer Besichtigung lohnt sich allemal.
Der Marienkult beginnt mit dem Konzil von Ephesus im 5. Jahrhundert einberufen. Ihr Leben wird in diesen Sälen umfassend in zahlreichen ikonografischen Facetten dargestellt, von einer kleinen Madonna als Wickelkind bis zu ihrem Tod, der für Gläubige allerdings kein normaler Tod ist, sondern Entschlafung, gefolgt von ihrer Himmelfahrt. Die Mutter Jesu hat immer wieder ein anderes Alter, Gesicht und Gestalt, und allein die Art ihrer Darstellung ist ein faszinierender Weg, der Völker, Mentalitäten, Religion, die Künstler, die Auftraggeber und die Geschichte berührt.
Natürlich ist Berlin nicht die Stadt, die man spontan mit Christi Geburt oder der Figur Marias in der Kunstgeschichte assoziiert, und für eine Madonna kommt normalerweise keiner nach Berlin. Aber die Museen sind auch dafür da, Überraschungen zu zaubern und entlegene Geschichten und Kulturen in himmlischer Harmonie zusammenzuführen.
Die Madonnen des Bode Museums gehören zweifellos zu den geheimen Schätzen der Stadt: unaufdringlich setzen sie sich den Blicken der Öffentlichkeit aus, und entziehen sich doch diskret dem Lichtermeer Berlins.
In den Madonnen des Bode Museums steckt ein Universum, ein intimer Mikrokosmos unerwarteter Vitalität im Schutz der stillen Hülle eines lichten und eleganten neobarocken Gebäudes.
An einem einzigen Tag sieht man im Spiegel des Gesichts einer einzigen wunderbaren Frau die Jahrhunderte vorbeiziehen.
Maria ist Polin, Maria hat die roten Pausbacken einer tiroler Müllerin, Maria aus Bayern hat ein rundes Gesicht und ein Grübchen am Kinn, Maria hat die glatte Haut und die feinen Züge Böhmens, Maria ist eine französische Matrone, Maria ist schön wie eine griechische Statue, das glänzende Weiß ihrer Figur kontrastiert in den Reliefs von Luca Della Robbia mit dem blauen Glanz des Hintergrunds; Maria ist eine sympathische Österreicherin mit munteren Augen, Maria ist eine Florentiner Adelsdame, Maria ist ein kleines Mädchen auf einem Knie ihrer Mutter, auf deren anderem das Jesuskind sitzt, Maria mit dem erstaunten Blick der byzantinischen Ikonen, mit länglichem Gesicht und olivfarbener Haut, eine Maria des Trecento scherzt mit dem Jesuskind, eine andere italienische Maria des 14. Jahrhunderts, blond und schlank, weicht leicht erschrocken zurück, wohl infolge der Verkündigung durch den Engel, und bewegt dabei leicht die Falten ihres leuchtend orangen Gewandes, wobei sie die Schönheit ihrer Formen erahnen lässt. Maria trägt eine Perlenkette, Maria sitzt ruhig auf einem Thron, während hinter ihr mit derselben Ruhe die Hügel der Toskana thronen, oder sie ist eine manieristisch verdrehte Jungfrau, Maria steht auf einer Mondsichel, Maria sitzt auf einem Löwen, eine spätgotische Maria, in Gold gekleidet, bietet unter ihrem blauen Mantel dem Volk von Ravensburg Schutz,
Maria als Model kommt Hüften schwingend auf den Betrachter zu, mit der Hand hält sie ihr opulentes barockes Gewand, das Haar locker gebunden und das Schultertuch näckisch zur Seite geschlagen – wer weiß, welche Vision Joseph Anton Feuchtmayer da übermannt hat. Eine flämische Madonna hat die blonden Locken des 16. Jahrhunderts, Maria mit dem Jesuskind und einem Papagei, eine spanische Barock-Madonna hat ein Gesicht wie aus Wachs und weint Tränen, die aussehen wie echt, Maria mit schmalem und angespanntem Gesicht, Maria bricht am Fuß des Kreuzes zusammen, von Schmerz überwältigt, Maria neben einem Brunnen in einem Garten der Frührenaissance, Maria heiratet, Maria will dem Jesuskind Einhalt gebieten, das mal mit einem Apfel spielt, mal die Füßchen stemmt und sich unversehens nach irgend einem Heiligen umdreht, mal die Seiten eines Buches zerknittert oder, als Wunderkind, das Buch konzentriert liest. Das Jesuskind streckt uns manchmal den nackten, pummeligen Po entgegen und stellt sich im Schoß der Mutter auf die Füße, manchmal erfasst es den Hals der Mutter oder spielt mit ihrem Schleier Versteck, manchmal lächelt es und zeigt dabei die ersten Zähnchen, manchmal versenkt es seine Augen in die der Mutter mit unglaublicher Intensität, wie auf der Madonna Pazzi von Donatello.
Zentripetale Kräfte nähern auf diesem Relief das Kind der Mutter und bringen eines der prägnantesten Mysterien des Katholizismus zum Ausdruck. Wurde zuerst die Mutter oder das Kind geboren?
O Magd und Mutter, Tochter deines Sohnes,
schreibt Dante im Paradies,
Demütigste und höchste Kreatur,,
das heißt sublimes Bindeglied zwischen Gott und den Menschen,
Ziel, vorbestimmt im Rat des ewigen Thrones,
Du hast so hoch die menschliche Natur
Geadelt, daß dem Schöpfer wert sie däuchte,
Daß als Geschöpf er in sie niederfuhr.
Dich hat Gott gewählt, um Fleisch geworden unter den Menschen zu weilen,
In deinem Leib entglomm aufs neu die Leuchte
Der Lieb‘, an deren Glut im ewigen Frieden
Entsproß die Rose, daß sie ewig leuchte.
Als mittagshelles Liebeslicht beschieden
Bist du hier oben uns; aus deinem Schoß
Quillt lebend Hoffen Sterblichen dortnieden.
Du, Herrin. kannst so viel und bist so groß,
Daß, wer nach Gnade strebt und nicht will flehen
Zu Dir, sich wünscht zu fliegen flügellos.
Du hilfst dem, der sich an Dich wendet, doch oft hilft du schon, bevor du zur Hilfe angerufen wirst.
In dir ist Mitleid, ist Barmherzigkeit,
In dir ist Großmut, ist vereint zum Bunde
Was einem Wesen Gott an Huld verleiht…
Übersetzung: http://www.operone.de/dante/poly_bartsch_333.php
In dir sind also alle möglichen und denkbaren Tugenden vereint, du bist all das, was die Menschheit braucht. Dante scheint da keine Zweifel zu hegen: Die Figur der Madonna ist das höchste Symbol der Hoffnung und der reinen und universellen Kraft der Liebe.
Unglaublich, wie anonym die Madonna in Berlin auftritt. Ihr Zauber vervielfältigt die heiligen Zeiten und bringt uns in Jahrhunderte zurück, in denen die christliche Religion, sich der Last ihrer furchtbaren Auswüchse noch nicht bewusst, für einen Großteil Europas ein und alles war. Die Audioguides sind im Bode Museum nur auf Deutsch oder Englisch, und die Besucher sind wenig vorbereitet, sei’s drum. In den hellgoldenen Höhen der neobarocken Kuppel wartet eine exklusive Tasse dünnen Kaffees.
( Übersetzt von Christoph Timpe )