Die Germanen lebten auf ihre Weise ganz ruhig in der Natur ihrer Wälder, bis die Römer einen Großteil ihrer Gebiete eroberten.
Man kann sie sich vorstellen, im Saal 204 und den anderen Sälen, die ihnen im Neuen Museum gewidmet sind, wie sie am Abend schweigsam aus bronzenen Schüsseln ihr teutonisches Abendbrot genießen, mit langen, gepflegten Haaren, ihrem ganzen Stolz und Statussymbol des Adels, ohne Zirkus und Theater, während ehrbare Frauen ohne Schmuck und Schminke sich mit ihren Kindern auf den Schultern zu schaffen machten und grobe Felle nähten. Wenn sie sich unbedingt hübsch machen wollten, fertigten sie sich noch im 3. Jahrhundert n. Chr. robusten und strengen Schmuck aus Bronze, ohne Steine, ohne Farben, kein Funkeln. In Thüringen waren Damenschuhe noch im 5. und 6. Jahrhundert n. Chr. einfache Pantoffeln aus irgendwie zusammengebundenen Stoffresten. Die Bräuche der Völker waren schon sehr verschieden und tief verwurzelt: Jahrtausende vorher gossen die lebhaften Damen des Adels im Süden das Wasser aus wertvollen Glaskaraffen in silberne Schalen, wählten sorgfältig den Pinsel für den Lidschatten, um Türkis-, Schwarz- und Rottöne zu schattieren, bemalten sich die Lippen, betrachteten sich im Spiegel, parfümierten und cremten sich ein, schmückten sich mit Hals- und Armkettchen aus bunten Steinen…
In Germanien reichte die römische Herrschaft im Lauf der Jahrhunderte bis an die Elbe, wobei sie sich am Rhein am besten etabliert und dadurch die dortige Bevölkerung nachhaltig geprägt hat.
Ein Schaukasten im Saal 206 verdeutlicht den Unterschied zwischen Gürteln für Frauen aus dem 6. Jahrhundert bei den Franken und in Thüringen: die Kleidung der fränkischen Frauen im Süd-Westen Germaniens stand noch lange unter dem Einfluss römischer Eleganz, wogegen die der Thüringerinnen im Nord-Osten viel einfacher geblieben ist.
Ein Gang durch das Neue Museum macht uns klar, dass sich die Geschichte der Kulturen auf einer deutlich längeren Zeitskala abspielt als die, mit denen wir normalerweise umgehen, wenn wir unsere gegenwärtigen Ereignisse oder die der vergangenen Jahrzehnte betrachten.
Mit unserem zeitlichen Horizont wächst auch unser Verständnis für die Zusammenhänge, die den Gang der Völker mit- und nebeneinander bestimmen, und wie sie in dem großen Abenteuer der Menschheit untereinander vermischt werden.
Man könnte sich auch in verwegene Spekulationen über mögliche historische Alternativen versteigen, sich fragen, wie Deutschland ohne Martin Luther geworden wäre, oder sich vorstellen, Savonarola hätte in Florenz riesige Erfolge gefeiert, die Moral seiner Mitbürger reformiert, und auf der gesamten italienischen Halbinsel über Jahrhunderte eine Welle der Rechtschaffenheit ausgelöst, oder ähnliche Träume…
Den Germanen ist auch der erste Saal links im ersten Stock des Neuen Museums gewidmet, nämlich der Saal mit der Nummer 102 in der ehemaligen Abteilung Vaterländischer Altertümer. Hier befinden sich auch die Nornen, die zu befragen wir schon Gelegenheit hatten. An den Wänden sind Szenen aus germanischen Sagen dargestellt sowie nordische Gottheiten wie Wotan, der Vater der Götter, der im 2. Weltkrieg sehr gelitten hat. Auf dem Fresco in der vierten Lünette thront er mit seiner Krone aus schimmernden Hörnern, einen Arm an der Hüfte, und lauscht mit gerunzelter Stirn, was die beiden Raben Hugin und Munin über die Ereignisse der Welt zu berichten haben. Gegenüber, auf der vierten Lünette links, steht Thor, der starke Gott der Blitze, auf einem Wagen. Der Wagen fährt über Wolken, gezogen von einem Widder. Der Gott trägt ledernen Helm und Mantel, eiserne Handschuhe zum Schutz vor seinem eigenen blitzeschlagenden Hammer, sowie einen Zaubergürtel, der seine Kraft verdoppelt. Sieben Elfen begleiten den furchterregenden Gott und mildern den Schrecken. Sie musizieren und tanzen am Ufer eines Sees, in dem sich friedlich Mond und Sterne spiegeln, weitere zwei tragen ihre Königin auf den Armen. Über der Tür, auf der gegenüberliegenden Seite des Saals, begleiten robuste Walküren die Seelen der gefallenen Helden nach Walhalla…Natur, Gerechtigkeit, Krieg und Musik in teutonischer Harmonie.
Bezeichnend ist auch, dass dieser ruhmreiche Saal heute vielfach nurmehr als Durchgang dient, der direkt zur Cafeteria Allegretto oder zum sagenhaften Schatz des Priamos führt, von dem in Berlin allerdings lediglich kleine Reste verblieben sind. Keiner begeistert sich offenbar noch für Thor, Wotan oder die Walküren, die in einer Art Schwebezustand verweilen, während sich die heutigen Germanen zwar noch für Wald und Tanz begeistern, letzteren aber nach Möglichkeit auf lateinamerikanischen Wagen.
Wir hatten schon bemerkt, wie die historischen Epochen von der Forschung im Lauf der Zeit immer wieder anders dargestellt werden. Offenbar ist der Standpunkt, von dem aus wir auf das Andere blicken, nur eine Perspektive, die dem Zeitgeist unterliegt und oftmals von späteren Gedanken und Entdeckungen revidiert wird.
Anfang des 19. Jahrhunderts beispielsweise bestand unter den Intellektuellen der deutschen Länder eine deutliche Tendenz, in der mittelalterlichen Geschichte den Ursprung einer Idee von Deutschland zu sehen. Das Mittelalter wurde so zu einer Art Gründungsmythos des deutschen Staates.
Im Saal 206, im zweiten Stock des Neuen Museums, geht es um Mittelalter und Völkerwanderung. Wir hatten uns das Leben der Germanen vor der Ankunft der Römer so ruhig und beschaulich vorgestellt, mit dem Ende des römischen Reiches jedenfalls begann eine extrem verworrene und bewegte Zeit. Alle waren in alle Richtungen unterwegs, und selbst wenn man den ganzen Tag im Saal 206 des Neuen Museums verbringt und die farbigen Pfeile auf den Landkarten verfolgt, ist man am Abend so schlau wie vorher. Wenn das Mittelalter der Gründungsmythos des deutschen Staates sein soll, dann sei hier feierlich verkündet, dass der deutsche Staat auf den Mythos des Chaos gegründet ist. Die Hunnen kommen im 3. Jahrhundert von Osten und überrennen die Goten, die Slaven bewegen sich im 7. Jahrhundert zwischen Elbe und Oder, die Awaren, ein berittenes Nomadenvolk aus Asien, wüten wie besessen, Sachsen, Thüringer, Friesen, Franken, Schwaben, Bajuwaren und Alemannen teilen aus und stecken ein… Die Romantiker des 19. Jahrhunderts liebten das Schöne und die Offenbarung der göttlichen Perfektion, den Hexenkessel des frühen Mittelalters wollten sie offenbar ausblenden, sondern hielten sich eher an das Mittelalter der großen Kathedralen, wie auf dem Bild Gotische Kirche auf einem Felsen am Meer von Friedrich Schinkel aus dem Jahr 1815, das im Saal 3.05 der Alten Nationalgalerie zu sehen ist: Reiter im Galopp in Richtung Meer, Ziel der Ewigkeit, und die Türme der Kirche, die spitz in den Himmel und Gott entgegen ragen.
( Übersetzt von Christoph Timpe )