Was sind denn jetzt genau diese modernen Zeiten? Oder leben wir vielleicht schon darin seit sie begonnen haben?
Das Geburtsdatum der modernen Zeiten ließe sich vielleicht immer dann festhalten, wenn etwas nicht mehr so ist wie vorher. Die Geschichte wäre voller Geburten der modernen Zeiten, von der Frühgeschichte bis heute.
Man könnte eine beliebig lange Linie der Zivilisation aufzeichnen und die zahllosen Bruchstellen mit der Vergangenheit darauf markieren. Wer dann noch behauptet, Geschichte sei eine Beschäftigung mit alten Dingen, dem könnte man prompt illustrieren, dass es sich bei ihr vielmehr um eine Abfolge von neuesten Neuigkeiten handelt. Dazu muss man sich nur bei einem dieser Bruchstellen positionieren und sich in seine Gegenwart versetzen.
Nehmen wir zum Beispiel den Saal 211, Bibliothek der Antike oder Niobidensaal genannt, im zweiten Stock des Neuen Museums.
In großen Schaukästen gleiten bequem auf Knopfdruck Tabletts vorbei, auf denen Beispiele der riesigen Berliner Schriftensammlung liegen. Die Sammlung umfasst 45.000 bis zu 4.000 Jahre alte Schriftstücke und ist eine der größten weltweit. Es handelt sich hauptsächlich um ägyptische Texte auf Papyrus, aber auch auf Stoff, Papier, Gips, Tontafeln, Wachs, Holz, Leder… Die Schriftzeichen sind Hieroglyphen, sie waren rund 3.000 Jahre lang die offizielle Schrift in Ägypten, aber es gibt auch Texte in hieratischer Schrift, eine Art praktische Kurzschrift für Verwaltungsdokumente, oder auf Äthiopisch, Syrisch, in demotischem Slang, einer Sprache des Volkes zwischen dem 8. und dem 4. Jahrhundert v. Chr., oder auch auf Aramäisch, und seit der Eroberung durch Alexander den Großen 332 v. Chr. auch Griechisch, sowie Latein wegen der römischen Herrschaft, und Koptisch, eine späte ägyptische Sprache, in der griechische und demotische Elemente gemischt sind, und schließlich Arabisch, seit der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert bis heute die offizielle Sprache…
Wenn die Historiker einmütig den Beginn der Geschichte der Menschheit mit der Erfindung der Schrift identifizieren, dann sind wir hier bei dem stets aktuellen Schritt zugegen, der die Menschheit aus der rohen Vorgeschichte in die manierliche Geschichte überführt. In diesem reizenden Saal aus dem 19. Jahrhundert bedienen wir mit den Fingern die Tabletts in den Schaukästen, und stehen dabei genau vor einer dieser epochalen Bruchstellen.
Die ältesten Schriften der Welt, die sich dank des trockenen ägyptischen Klimas erhalten haben, werden hier wie Reliquien verehrt. Es sind wertvolle Zeugnisse menschlichen Handelns und Denkens aus vier Jahrtausenden über Medizin, Magie, Mathematik und Astronomie, Philosophie, Sprachen und Sprachwissenschaft, Religion, Literatur, über Rechtswesen und Handel…
Die Texte sind so fragil, dass man sie nicht einmal fotografieren darf, aber eine eifrige Mannschaft von Ägyptologen, Orientalisten und Informatikern ist gerade dabei, sie alle zu digitalisieren. Dadurch sollen sie für alle Zeiten konserviert werden, was auch immer für alle Zeiten heißen mag, und man kann sie dann bequem auf dem Sofa im Wohnzimmer lesen, sofern man sie denn verstehen kann.
Wunder gibt es viele auf der Erde, doch das größte Wunder ist der Mensch steht prominent und frei nach Sophokles auf dem Südportal der Bibliothek. Und der Fries auf dem Nordportal gegenüber wirft standesgemäß mit Aischylos zurück: Prometheus hat den Menschen alle Künste beigebracht.
Ja Prometheus, der Titan, der den Göttern das Feuer raubte um es den Menschen zu geben, Symbol für die Freiheit der Gedanken, für das menschliche Streben nach Wissen, wurde dafür von Zeus mit einer furchtbaren Folter bestraft: an einen Felsen Säule gekettet, kommt ein Adler und frisst seine Leber. In der Nacht wächst seine Leber wieder nach, und am nächsten Tag kommt der Adler wieder und frisst wieder seine Leber. Ein Mythos, bei dem es einem den Magen umdreht, aber immerhin mit gutem Ausgang. Am Ende zahlt sich die mutige Empörung gegen den Zwang bestehender Zustände, denn Herkules kommt und befreit ihn mit Zeus‘ Zustimmung. Eine gute Nachricht, dieser Triumph der Kühnheit, der Kunst, der freien und ungehinderten Forschung für den Fortschritt der Menschheit: moderne Zeiten, zweifellos.
Die Alte Geschichte wimmelt nur so von glühenden Revolutionären, deshalb ist sie auch für jede Generation attraktiv. Also bitte keine scheue Ehrfurcht mehr vor den Vorfahren, keinen lästigen Ballast von Daten und Fakten für obsolete Nostalgiker, denn die Geschichte ist praktisch gegenwärtig, so gegenwärtig, dass man sie nicht studieren muss, sondern mit Leidenschaft leben kann. Wahrscheinlich würde Dr. Soran sagen, dass nicht nur die Zeit, sondern auch die Geschichte das Feuer ist, in dem wir verbrennen, und unsere clevere und revolutionäre Jugend würde ihn auf Anhieb verstehen.
Im dritten Stock des Neuen Museums, im Saal 304, neben dem mit dem bronzezeitlichen Horn und dem goldenen Hut, bleiben die Besucher oft an der Zeitmaschine kleben. Der Apparat, halb Kino und halb Fernseher, projeziert eine Computeranimation über die klimatischen und sozialen Veränderungen im Lauf der Vor- und Frühgeschichte.
Die Besucher blicken gebannt auf die Abfolge von Szenen aus Alt-, Mittel- und Jungsteinzeit, sie spiegeln sich förmlich in den Urmenschen, die der Apparat vorführt, während das Eis langsam schmilzt und die Urmenschen nach und nach ihre Behaarung verlieren, gebannt ins Feuer blicken und die klimatischen Veränderungen beobachten.
Offenbar liegt der Anziehungskraft bewegter Bilder ein unbewusster, atavischer Zwang zugrunde, dem wir und die Urmenschen gleichermaßen unterliegen, aber es ist gut so, die Animation ist lehrreich und gut gemacht. Man sieht in der interessanten Vorführung die wiederkehrenden Eiszeiten, die Mammutjagd, die ersten Rodungen, die Pfahlbauten am Flussufer mit geneigten Strohdächern, Tiere, die friedlich in Höhlen ruhen, gehegte Felder, erste Fischernetze, rudimentuare Metallverarbeitung zur Herstellung von Werkzeug und Jagdwaffen, zum Trocknen ausgelegte Tierfelle, Höhlenmalereien…
Man kann also hier vor dem Bildschirm im Neuen Museum auch etwas über Vor- und Frühgeschichte lernen, moderne Kommunikationstechnik macht’s möglich, da haben wir richtig Glück.
Und wer den Bildschirm partout nicht mag, der kann immer noch die Augen schließen und sich der Tonspur anvertrauen. Eine esoterische Mischung aus Brausen des Windes, Vogelgezwitscher, ein Quieken unbekannter Herkunft, Hundegebell, Klagelaute, die klingen sollen wie Gesänge der Urmenschen, Wasserplatschen, rhythmische Schläge wie beim Holzfällen, Schwerterklirren, Schlachtengetümmel, Grillenzirpen. Ach wie herrlich und bequem, unsere modernen Zeiten!
Richtig modern sind natürlich auch die roten Kopfhörer der Audioguides mit leicht verständlichen und unterhaltsamen Texten über die Herkunft der Exponate in allen fünf Museen.
Auf der Insel ist ja alles klar durchdacht und praktisch, und die Audioguides sind gut gemacht, die zeitgemäße Kombination aus Fakten und Erläuterungen wird nie langweilig.
Die roten Kopfhörer wären dann die netteren Urenkel dieser abweisenden, grauen Telefone, die man früher am Eingang von Kunstsammlungen vorfand: eine tonlose Stimme schüttete einen zu mit einem Schwall trockener, unverdaulicher Fakten, und die begleitenden Dias machten den katastrophalen Gesamteffekt auch nicht besser.
In unseren opulenten Museen sind die jetzigen Audio-Kommentare ganz schlank und auf den Durchschnittsbesucher von heute zugeschnitten, ein bisschen Information, ein bisschen Unterhaltung, keine Langeweile oder gar Ermüdung, man hat ja im Leben noch anderes vor. Ein paar Minuten beträgt offenbar die Zeit, die man im Schnitt maximal jedem Exponat widmet. Die Erklärungen sind alles andere als langatmig: eine Priese Grundbegriffe, ein paar Takte Musik (stereo), und weiter. Nächstes Exponat: piep-piep, kurze nostalgische Musik, es war so-und-so, Punkt. Der Nächste bitte: Hinz. Wenn Sie etwas über Kunz erfahren wollen, drücken Sie bitte die Raute-Taste. Kunz: so, das wollten wir über Kunz erfahren, Dankeschön und auf Wiedersehen. Vor dem Tor von Babylon tönt aus den Kopfhörern die gruftige Stimme von Nebukadnezar II., der in erster Person das Ischtar-Tor präsentiert. Sicher, man langweilt sich nie, aber in unseren technologischen Zeiten besteht immer die Gefahr, dass man zwar so einigermaßen informiert wird, einem aber die Muße zum eigenen Überlegen fehlt, und man vor allem nicht unmittelbar und mit eigenen Augen hinschaut. Uns wird oft die Zeit genommen, Exponate und Kunstwerke mit Hilfe eigener Erfahrung in einen persönlichen Kontext zu integrieren. Wir sind einfach zu passiv: anstatt die leichte und schnelle Verfügbarkeit von Informationen wirklich zu nutzen, schlucken wir Kultur in Pillen und verzetteln uns. Deswegen hier eine uninteressierte, unzeitgemäße und ungebete Empfehlung: Wer auf der Berliner Museumsinsel wirklich einen bisschen seiner wertvollen Zeit der kulturellen Bereicherung widmen möchte, der sollte zunächst alle schriftlichen und akustischen Kommentare beiseite lassen und die Sachen einfach mal unmittelbar und mit eigenen Augen ansehen. Wenn man will, kann man später immer noch seinen Wissensdurst stillen und das Gesehene im Archiv der eigenen Kenntisse verankern. Primum videre, deinde philosophari. Erst sehen, dann reden, sagte schon Aristoteles.
Allerdings braucht man Zeit für eine solche Herangehensweise, und mit einem Besuch allein ist es nicht getan.
Im Idealfall entwickelt sich zwischen Besucher und Museum dann eine Art Verhältnis, ein Dialog, eine Geschichte.
Die Museumsinsel ist ihrerseits geneigt, ein solches Verhältnis zu fördern. Das zeigt sie durch das Angebot von Jahreskarten zu einem sehr erschwinglichen Preis, wenig mehr als für ein paar einzelne Eintrittskarten.
Der Weg zum Wissen ist eben lang und kompliziert, aber heutzutage ist er in Berlin immerhin allen zugänglich, und dank moderner Technologie auch breit und eben.
Jugendliche bis 18 Jahre kommen umsonst in alle fünf Museen, das ist doch ein Zeichen großer Zivilisation.
Moderne Zeiten sind also auf der Insel demokratische Zeiten, Zeiten, die den neuen Generationen offen stehen, Zeiten mit Weitblick und Bewusstsein für das Kommende, das mit offenen Armen und mit Engagement empfangen wird.
Moderne Zeiten sind jedoch per se und zwangsläufig auch Zeiten der Rebellion. So breit und eben und wohlbedacht man die Straße des Wissens auch für sie vorbereitet, die neue Generation wird immer mit Unmut aus der Bahn brechen, und hartnäckig, geräuschvoll und eigensinnig neue Wege einschlagen.
Max Liebermann war einer der kultiviertesten und intelligentesten Männer, die Berlin je hatte, Preisträger zahlreicher Malerei-Wettbewerbe, zwölf Jahre lang Präsident der Akademie der Künste, und bis zur Machtergreifung der Nazis lange Jahre ihr Ehrenpräsident. Aber Liebermann war als Kind schlecht in der Schule, hielt sich ungern an Vorschriften, hatte nur Reiten im Kopf, Rudern im Sommer und Schlittenfahren im Winter, und machte seinen bürgerlichen und konservativen Eltern große Sorgen.
Von Max Liebermann kann man heute in der Alten Nationalgallerie mehrere Gemälde bewundern, aber damals fragte sein Vater den erstgeborenen Georg: Was denkst Du über das Unglück, dass Max Maler werden will?, worauf Georg antwortete: Es gibt Schlimmeres, und vielleicht wird ja was daraus! Max besuchte als Junge Akademien und Malerschulen, die er dann immer unwillig und verdrossen wieder abbrach. Als er seine ersten Bilder vorstellte, wurde er mit Kritik überschüttet. Es kam der erste Erfolg, natürlich im Ausland, und schließlich der Durchbruch, Liebermann wurde einer der größten Maler in Berlin an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, ja sogar wie erwähnt Präsident der namhaften Akademie der Künste. Er selbst hat dann gesagt: Wir sind alle Kinder unserer Zeit, und es ist ganz natürlich, wenn die Jungen den Platz der Alten einnehmen wollen. Denn die Kunst ist ein ewiges Werden. Niemand kann ihr, wie einem Soldaten, Halt gebieten, und Stehenbleiben bedeutet ihren Tod.
Die Mitgliedschaft in der Akademie stand in keinem Widerspruch zu seinem Vorsitz in der Gruppe der sogenannten Berliner Secession um 1900. Wie in jedem Generationskonflikt ging es um die Auseinandersetzung zwischen Alt und Neu, und die Secessionisten standen natürlich auf der Seite der Impressionisten, den enfants térribles der jüngsten Kunstgeschichte, zusammen mit den Expressionisten, die ebenfalls revolutionäre Akademie-Gegner waren. Impressionismus, Expressionismus, diese beiden Zauberwörter der Revolution lassen Herzen und Einnahmen höher schlagen. Die Massen strömen wie elektrisiert, stürmen millionenfach die Ausstellungen und warten stundenlang vor verstopften Türen. Das müsste doch jedem Finanzminister auffallen: eine große Ausstellung über Impressionismus, und weg sind die Probleme! Oder noch besser: Impressionismus und Expressionismus zusammen, wie die Im-Ex, die kürzlich in der Alten Nationalgallerie lief. Als ob Berlin keinen Unternehmergeist hätte! In Wirklichkeit weiß man jedoch, dass die Reisen der Meisterwerke Unsummen für Transport, Versicherung, und den Aufbau vor Ort verschlingen, weshalb am Ende vielleicht doch nicht so viel übrig bleibt. Aber ein Publikumserfolg sind solche Ausstellungen allemal.
Modern wird oft auch als Synonym für schnell verstanden, und die Museumsinsel ist so ein Ort der Beschleunigung der Menschheitsgeschichte, voller unerwarteter Wendepunkte.
Die Alten Nationalgalerie, deren Name ja eher konservative Ruhe ausstrahlt, enthält eine ganze Menge mehr oder weniger versteckter Momente rasanter Fortentwicklung.
Es gibt in unserer Stadt andere Museen, die sich der Kunst des 20. Jahrhunderts widmen. Aber die Spur zu den ersten Anzeichen, zu den jungen Keimen einer revolutionären Neuen Zeit führt uns hier auf die Insel.
Die Suche nach all diesen Anzeichen könnte ein interessantes Spiel werden.
Es könnte mit der Beobachtung beginnen, wie mit der Geburt der Dampfmaschine die Menschheit beschleunigt wird, wie sich schon an den Fundamenten des Neuen Museums gezeigt hat. Die Zeit multipliziert und rationalisiert sich während der industriellen Revolution durch die Arbeitsteilung in den Fabriken, und wird dann wieder in auf einen einzigen, fulminanten Moment kondensiert durch die ersten fotographischen Momentaufnahmen.
Man könnte vielleicht formulieren, dass die Eisenbahn, die Industrialisierung und die Fotographie die Begründer der Jahrhunderte der Moderne darstellen, die Grundlagen praktisch unsere gesamten heutigen Welt. Ein Triptychon, der liebevoll eingerahmt und zu unseren wichtigsten Erinnerungsstücken gehört.
Die extreme Mobilität von heute, unsere unbegrenzte Konsumkapazität, die permanenten Fotos…all das, worauf wir am wenigsten verzichten können ließe sich leicht auf Eisenbahn, Industrialisierung und Fotographie zurückführen.
Eisenbahn, Industrialisierung und Fotographie haben das Zeitempfinden der Menschen des 19. Jahrhunderts völlig neu definiert, sie gaben eine neue Taktung, eine neue Einteilung, eine neue Fixierung vor.
Fabriken und Eisenbahnen funktionierten nach festgelegten Uhrzeiten, vermögende Leute verfügten nun auch über Freizeit, die man beispielsweise für Reisen nutzen konnte, und auf Fotos konnten unerwartete Momente festgehalten werden. Adolph von Menzel war der erste Maler von europäischem Rang, der ausschließlich in Berlin gearbeitet hat. 1847 malte er das Bild Die Berlin-Potsdamer Bahn, heute im Saal 1.08 im ersten Stock der Alten Nationalgalerie.
Wie ein Riss teilt die große Kurve der Gleise das Bild in zwei vertikale Hälften. Rechts am Horizont liegt in der Ferne Berlin unter grauem, aber lichtem Himmel. Links ein grün-brauner Hügel mit einer dichten Baumreihe, rechts unten gelbe und goldenen, trockene Grasbüschel, und winzige bunte Pünktchen, die Blumen darstellen. Eine horizontale Linie teilt die große Kurve in der Bildmitte und trennt die Stadt vom Land. Im Vordergrund der Zug mit seiner schönen, schwarzen Lokomotive, in der Kohle verbrennt. Die Bahn scheint eilig die Bildfläche verlassen zu wollen, grauer Rauch wirbelt um die Wagen. Von Berlin nach Potsdam gelangte man so in 35 Minuten anstatt in mehreren Stunden, was den konservativen Friedrich Wilhelm III nicht wenig verdross. Durch die Stimme eines Schauspielers kann man ihn noch murren hören aus den roten Kopfhörer: Alles soll Karriere gehen, die Ruhe und Gemütlichkeit leiden darunter. Kann mir keine große Seligkeit davon versprechen, ein paar Stunden früher von Berlin in Potsdam zu sein. Zeit wird’s lehren..
Die Zeit hat es tatsächlich gelehrt: Berlin ist seither komplett von Gleisen durchzogen, auf denen täglich Millionen von Personen zur Arbeit, zur Schule, in Urlaub, oder sonst wohin fahren.
Man kann übrigens auch beobachten, wie die Einführung der Fotographie seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts den Blick der Maler verändert hat.
1867 malte Monet das Bild St. Germain l’Auxerrois, das heute im zweiten Stock der Alten Nationalgalerie zu sehen ist. Der Blickwinkel des Malers wirkt dabei wie zufällig aus erhöhter Position. Er will eine Atmosphäre einfangen, einen spontanen Moment, und lässt dabei Details beiseite, die früher wichtig gewesen wären: die Blätter der Bäume oder auch die menschlichen Figuren, denn in einer großen Stadt kann man die Einwohner ja nicht einzeln erkennen, sondern sie bilden eine Menge, eine verschwommene Masse. Das Leben besteht aus Momenten, die erfasst werden wollen, so wie sie sich gerade bieten, wie auf einem Foto eben. Hätte Monet Instagram gehabt, dann hätte er St. Germain l’Auxerrois vielleicht gepostet. Halô les Gars! Salut de St. Germain l’Auxerrois! Das Objektiv ist auf die große Rosette gerichtet, dort ist alles scharf und klar. Der Himmel ist wolkenlos und homogen, und wird von der Sonne direkt und unmittelbar ausgeleuchtet, während die Leute im Schatten der Bäume über den großen Platz wimmeln.
Ebenso in der Alten Nationalgalerie, im Saal 1.13 im ersten Stock, befindet sich das vielleicht erste Bild des sogenannten deutschen Industrie-Realismus, wieder aus der Hand von Adolph von Menzel. Das Eisenwalzwerk entstand innerhalb von drei Jahren ab 1872 und trägt den vielsagenden Beinamen Moderne Cyclopen. Auf der großen, dunklen Leinwand sind die Arbeitsphasen der Fabrik gleichzeitig in verschiedenen Szenen dargestellt: man sieht Arbeiter an der Gießerei, mit durch die Anstrengung hervortretenden Muskeln, auf den Körpern den Widerschein der großen glühenden Masse, an der sie im Zentrum des Bildes arbeiten, andere, die den Abtransport des Materials begleiten, Barren, die bald zu Gleisen geformt werden und dann auskühlen, wieder andere, die erschöpft und mit grauen Gesichtern eine Pause machen und essen, oder solche, die sich nach der Schicht mit abwesender Miene waschen…Die Zeit eines Arbeitstages teilt sich auf, vervielfältigt sich, und der moderne Mensch setzt sich in Bewegung, erschöpft und belastet mit Blöcken aus Zeit, über die Andere bestimmen.
In den ersten Jahrzehnten seiner Tätigkeit malt Max Liebermann lauter menschliche Figuren, die mit Gelassenheit einer handwerklichen Tätigkeit nachgehen. Aber 1889 lässt er plötzlich seine Figuren hinter sich und saust kreuz und quer wie mit einem Kamerawagen durch den Garten des Altenheims Stevenstift in Leyden. Auf dem Bild, zu sehen im zweiten Stock der Nationalgalerie, rückt er auf einmal die wilde Vegetation eines holländischen Innenhofs in den Mittelpunkt der Darstellung. Die Männer und Frauen werden an die Mauer des Gebäudes gedrückt, um Platz zu schaffen für die ungebändigte Natur. Bewegung, Farbe und Vegetation zucken unruhig durch unsere vibrierenden modernen Zeiten.
( Übersetzt von Christoph Timpe )