Fernost ist ein Mythos, der zahlreiche fantastische Suggestionen aktiviert: Marco Polo am Hofe des Großkahns, knallbunte Drachen, ein lächelnder Buddha, eine unverständliche Sprache und Geschmäcker, die definitiv anders sind.
Der Orient ist insoweit schön, weil er ein Symbol für das, was wir nicht sind, ist und interessant, da unsere neugierige menschliche Natur uns zum Explorieren neuer Welten bringt, aber auch beunruhigend, weil er eben anders ist.
Das italienische Adjektiv levantino (orientalisch) bedeutet auch ein bisschen schlau und betrügerisch und bezog sich auf die östlichen Kaufleute, die sicherlich erfahrener als die neuen und naiven westlichen Völker beim Handeln waren.
Wenn wir denken, dass die Erde rund ist, dann könnten wir unstrittig feststellen, dass sie auch unendlich orientalisch ist, mit jedem einzigen Volk gefangen neben einem unbequemen orientalischen Nachbarn und selbst orientalisch in Bezug auf das westlichere Land.
Im Inneren einer eigenen Nation könnten wir östliche Regionen suchen, östliche Städte, sogar orientalische Viertel, Ostküsten und so weiter mit einer immer wachsenderen Leidenschaft und Phobie.
Auch in dem schon seit langem vereinten Deutschland könnte noch ein wenig Osten stecken, bis hin zum Verdacht, dass Ostdeutschland noch nicht ganz tot sei.
Unser Fernost ist aber auf jeden Fall Polen.
Im Vergleich zu Marco Polo in China, haben wir heute einen bequemen Flixbus und nicht wenige andere Feinheiten. Aber das Konzept ähnelt sich ein bisschen: eine Stunde Wald von der deutschen Hauptstadt entfernt trifft man auf einer asphaltierten Lichtung das letzte Polizeiauto und den ersten Policja Kollegen, und man fühlt sich plötzlich am Ende der Welt.
Keine Gewehre, keine Durchsuchungen, keine Verhöre, keine Schrecken vom letzten Krieg, aber der neue deutsche Adler und der alte polnische Adler sind noch nicht wirklich enge Freunde.
Wir können nicht vergessen, und wir dürfen nicht vergessen, was alles passiert ist, aber es wäre auch schön, in eine strahlende Zukunft zu blicken, aber wie?
Deutsch heißt auf Polnisch immer Niemec, ein Wort das schon mit der Verneinung nie beginnt und das alles zusammen bedeutet: der, der nicht spricht. Und Deutschland, Niemcy, ist das Land derer, die nicht sprechen.
Nicht schlecht als Dialogbeginn, aber es ist schon die Wahrheit.
Ein massives Interesse für die polnische Sprache war bis heute in Deutschland noch nicht zu spüren, während man ältere Polen, die die deutsche Sprache noch ein bisschen sprechen, ja noch findet, aber sie sind alle nicht so besonders begeistert davon.
Wer heutzutage unser strapazierter Nachbar Polen ist, ist schwer zu sagen, aber wir dachten, dass er sich in einer seiner Übergangszeiten befindet, und wir bewundern das auch nicht, weil die Geschichte dieses Landes zum größten Teil aus dramatischen Veränderungen besteht, Unfällen und Umkehrungen aller Sorten, Einschränkungen von Staatsgebieten bis zu einer totalen Finsternis zwischen 1795 und 1918, mit dem Verschwinden von der Landkarte, aber mit einem starken und mutigen Volk.
Polen ist daher mehr als ein Land, ein Volk, heroisch, ohne Zweifel, das aber wie alle Helden zu einem tragischen Schicksal neigt, und gerade da liegt vielleicht sein Charme.
Wie kann man Leute, die noch in ihrer Hymne einen fröhlichen alten Marsch haben, der Noch ist Polen nicht verloren heißt, nicht lieben?
Auch nur aus diesem Grund interessiert es uns zu sehen, was unsere Nachbarn, die noch nicht ausgewandert sind, treiben, wie sie leben, was sie erzählen, worüber sie lachen und was sie zum Verzweifeln bringt.
Wir würden eine Sprache vielleicht fast so schwierig wie Chinesisch finden, die unsere Bedürfnisse nach Erfüllung und Genauigkeit strapaziert, aber wir würden sicherlich auch ein bisschen die unglaubliche slawische Art der Improvisation und Lebenslust zulassen, und wir würden vielleicht mit Höflichkeit empfangen und sicherlich was zum Lernen finden.
( Lektorat von Michaela Schlegel )
Bibliographie
Babbel, Polnischkurs online, 2019
Buchbund, Polnische Buchhandlung, Sanderstrasse, 8, 12047 Berlin
Gerhard Gauck, Polen Verstehen, Klett-Cotta, Stuttgart 2018
Radek Knapp, Gebrauchsanweisung für Polen, Piper, München 2107
Steffen Möller, Viva Polonia, Piper, München 2018