Die letzten Pferdekutschen fuhren noch 1920 durch Berlin. Danach verschwanden sie dann allmählich, denn die Berliner fingen an, mit dem Zug zu fahren. Die Eisenbahn verleiht der deutschen Hauptstadt ihre Struktur, schon das Schienennetz macht das deutlich.
Auf der Straße unterwegs zu sein ist schön und gut. Auf den Schienen ist es anders: der Geruch von Eisen und verbranntem Gummi, das Schnauben und Pfeiffen, das Kreischen von Eisen auf Eisen, das Zittern und Rütteln, der Luftdruck beim Passieren der Tunnel, der Wechsel von Licht und Dunkelheit, die drei Signaltöne beim Öffnen und Schließen der Türen.
Für 7,00 Euro kann man in Berlin bis zur Besinnungslosigkeit Bahn fahren, einen Tag und eine Nacht, das ist der Preis der Tageskarte der Berliner Verkehrsbetriebe BVG. Hat man dann noch nicht alles gesehen, kann man am nächsten Tag eine neue Karte lösen.
Die BVG wurde am 1. Januar 1938 gegründet. Auch sie wurde am 1. August 1949 in Ost- und West-BVG geteilt und am 1. Januar 1992 wiedervereinigt. Berlin ist ohne BVG nicht denkbar. Sie verwaltet den gesamten öffentlichen Nahverkehr mit Bussen, Straßenbahnen, U- und S-Bahn sowie den Regionalverkehr innerhalb der Stadt mit der Hilfe der Deutsche Bahn. Der Zug ist des Berliners bester Freund. Berliner Babys lernen nach Mama und Papa gleich das Wort „Zug“, damit ist dann immer etwas Aufregendes gemeint. Der Berliner Schienennahverkehr besteht aus der S-Bahn, die meist überirdisch verläuft und der vorwiegend unterirdisch fahrenden U-Bahn.
Das S-Bahnnetz besteht aus 15 Linien, von denen einige im Bereich der Innenstadt zum Teil dieselben Strecken nutzen, es erschließt die gesamte Stadt und das Umland. Zwei dieser Linien bilden die Ringbahn.
Die U-Bahn hat 10 Linien, verläuft aber nicht immer unter der Erde. Oft tritt sie aus dem Untergrund und bietet dann spektakuläre Ausblicke, zumal wenn die Gleise auf erhöhten Viadukten verlaufen. Manchmal taucht die S-Bahn auch unter die Erde und spielt sozusagen U-Bahn. Jedenfalls erkennt man die beiden Bahnen immer an der Farbe: die U-Bahn ist immer gelb, die S-Bahn dagegen stets beige und rot.
Immer über der Erde verläuft die Straßenbahn. Am 2. Oktober 1967 wurde in West-Berlin ihr Betrieb eingestellt, während sie im Osten nach wie vor das Straßenbild prägte. Ihre muntere gelbe Farbe macht sie zu einem Hingucker. Die einzige Stelle ohne Straßenbahnen war in Ostberlin der Alexanderplatz, denn der gesamte Platz war vom Regime den Aufmärschen vorbehalten. Seit dem 18. Dezember 1998 sind sie aber auch dort wieder unterwegs.
Während der Teilung waren die U-Bahnlinien 1 und 2 zwischen Ost und West unterbrochen, und die U6 und U8 verkehrten im Osten gar nicht mehr. Seit dem 1. Juli 1990 ist der Betrieb wieder aufgenommen.
Die Geschichte der Berliner Bahnen ist ein Abbild der Geschichte dieser einzigartigen Stadt. Während der Teilung spielten sich unerhörte Dinge ab. Gleise wurden buchstäblich zertrennt, und diverse Bahnhöfe geschlossen. Diese hießen dann Geisterbahnhöfe, die Züge fuhren durch ohne zu halten. Der U-Bahnhof Wollankstraße, obwohl auf östlichem Gebiet gelegen, gehörte offiziell zum Westen und war für DDR-Bürger nicht zu benutzen. Dort wurde 1962 zwischen den Gleisen ein Fluchttunnel entdeckt.
Hier soll jetzt nur über Berlin erzählt werden, obwohl damals ja das ganze Land geteilt war. Billigflieger gab es nicht, man erreichte Berlin also meist mit der Bahn. Fernzüge zwischen Ost und West hießen offiziell Interzonenzüge und inoffiziell Transit-Züge. Wenn man mit einem solchen Zug vom Westen in den Osten fuhr, gelangte man in eine andere Welt, eine besetzte Zone, die Angst einflößte. Die Züge beispielsweise aus Hamburg hielte an der Grenze zu Mecklenburg. Norbert Weise erinnert sich an die Lautsprecherdurchsage: Schwanheide, hier ist Schwanheide! Werte Reisende, wir begrüßen Sie in der Deutschen Demokratischen Republik. Alle Reisende, die nicht nach Berlin fahren, werden aufgefordert, sofort auszusteigen, da dieser Zug bis Berlin nicht hält. Ich wiederhole… Die Polizei stieg zu, das Zugpersonal wechselte, eine andere Lok, in der DDR oft eine Dampflok, wurde vorgespannt, die Passkontrolle kam mit einem Bauchladen, aber anstatt Popcorn zu verkaufen wurden Pässe gestempelt. Durch den Lausprecher ertönte: Zug frei zur Kontrolle! Eine widersinnige Ansage, typisch für das Regime. Was heißt hier frei? Frei im Sinne dass der Zug gestoppt wurde und Polizeihunde zwischen Wagen und Gleisen nach versteckten Reisenden oder Waren suchen konnten. Das Gepäck wurde kontrolliert und Bücher und sonstige Druckerzeugnisse bisweilen eingezogen. Natürlich war fotografieren streng verboten, die Bilder dieser Momente existieren also nur im Gedächtnis und in den Erzählungen der Transitreisenden. Fand der Grenzübergang bei Dunkelheit statt, wurde der Zug von Scheinwerfern taghell beleuchtet, mit einem diffusen und defokussierendem Licht, wie es für DDR-Scheinwerfer typisch war.
Ein Thema, das unseren Weg durch das Berliner Schienennetz wie ein roter Faden durchzieht ist das der Menschenmengen. Menschen gibt es bei der Bahn immer, oder eben auch nicht. Ihre Präsenz oder ihr Fehlen bemerkt man hier besonders. Keine Eisenbahn ohne Menschen, könnte man sagen. Als 1838 vom Potsdamer Platz der erste Zug Richtung Potsdam fuhr, war die ganze Bevölkerung auf den Beinen und winkte entlang der gesamten Strecke. Als am 21. August 1858 die erste elektrische Lokomotive die Borsigwerke verließ, standen 30.000 Neugierige an den Fabriktoren um sie zu bestaunen.
Wo heute der schöne neue Hauptbahnhof steht, war einst der Lehrter Bahnhof. Eine jubelnde Menge hieß dort stets die ankommenden Fürsten, Monarchen, Diktatoren, Soldaten und Matrosen willkommen.
Tausende von Menschen stellten sich in der Nacht des 9. November 1989 auf die Gleise an der Bornholmer Straße, die Mauer fiel und die Geschichte nahm eine neue Wendung.
Und noch am 29. Juli und 13. August 2005 kamen Leute, um dabei zu sein, als aus 70 Meter Höhe die zwei riesigen Stahldächer zur Überdachung des neuen Hauptbahnhofs wie eine Zugbrücke um 90∞ in die Horizontale gesenkt wurden.
Die gigantischen Stahlteile waren bereits vormoniert und sollten von oben positioniert werden, um den bereits laufenden Betrieb des Bahnhofs nicht so lange zu unterbrechen. Die Aktion fand an zwei Wochenenden statt, um den Pendlerverkehr nicht zu beeinträchtigen. Pendler oder nicht, die Leute kamen trotzdem um den Vorgang zu beobachten.
Gleise können manchmal eine große Wirkung auf uns ausüben: weil wir ihre Geschichte kennen oder sie uns nur vorstellen, oder weil die parallelen Bänder einen Traum von der Ferne in uns wecken, den Traum, irgendwie einen Weg einzuschlagen.
Zahllose Kinder haben in der Nachkriegszeit an den zerbombten Gleisen Berlins gespielt und dabei von der Reise in die Welt geträumt.
Überall in der Stadt sieht man immer irgendwo einen Zug: eine gelbe U-Bahn, eine beige-rote S-Bahn oder eine rote Regionalbahn. Dazu kommen die Fernzüge der Deutschen Bahn oder aus dem Ausland, und aus irgendeiner Ecke kommt immer eine gelbe Straßenbahn.
Eine der Stellen mit spektakulärer Sicht auf Züge in Augenhöhe ist die Brücke neben dem Bode-Museum. Man betrachtet das Mosaik aus der Kirche San Michele in Africisco in Ravenna, Christus baut sich typisch byzantinisch frontal vor uns auf, seine Haltung ein Symbol der göttlichen Fülle. Er hält das Evangelium geöffnet in der Hand: „Wer mich sieht, sieht auch den Vater“. Umgeben ist er von den Erzengeln Michael und Gabriel sowie von sieben Cherubinen mit ihren Trompeten. Man hört gleichsam die feierlichen Fanfaren des Himmelreichs. Ein scharfer Pfiff setzt unserer Vision ein jähes Ende, denn unmittelbar jenseits der Fenster rattern die Wagons eines Zuges vorbei. Das Bode-Museum ist zweifellos bemerkenswert und faszinierend: die Pfiffe und das Rattern der Züge, die vor seinen Fenstern vorbeiziehen, wird man kaum vergessen.
Was uns heute völlig selbstverständlich vorkommt, war einst die Vision von ganz besonderen Menschen: sie haben uns aus der alten Welt unwiederbringlich in die Moderne geführt.
Der menschliche Geist hat in vielen Bereichen der Technik erstaunliches hervorgebracht, und die Eisenbahn bleibt mit ihrem schier unbegrenzten Bewegungspotential eine faszinierende Errungenschaft.
Man sieht an den Berliner Bahnhöfen, vom kleinen S-Bahnhof Nikolassee aus dem Jahr 1902, über die malerischen U-Bahnhöfe des Jugendstil bis zu den Konstruktionen aus Glas und Stahl unserer Tage, wie diese Gebäude zwar einer Funktion dienen, gleichzeitig aber als Tempel für den Kult der Moderne konzipiert sind und als solche wahrgenommen werden. Manche Bahnhöfe sind einfach und funktional, andere dagegen verspielt oder gar luxuriös. So sind die dicken Pfeiler aus genietetem Gusseisen in einigen Stationen mit eleganten jonischen Kapitellen versehen: in der Station Wittenbergplatz sind sie dunkelgrün, am Alexanderplatz braun, am Senefelderplatz blau. In manchen U-Bahnhöfen, wie beispielsweise am Viktoria-Luise-Platz, stehen noch die hölzernen Sitzbänke mit den hohen Rückenlehnen, auf denen die Reisenden Rücken an Rücken sitzen, wie in den Wagons im wilden Westen. Die U3 ist eine Linie der stilistischen, historischen und farblichen Vielfalt. Eine Fahrt auf den Gleisen der deutschen Hauptstadt ist immer mehr als das bloße Erreichen des Ziels. Reisen bedeutet ja nicht nur das Durchmessen des Raumes in einer bestimmten Zeit, man durchmisst auch den Raum der Geschichte und den der künftigen Möglichkeiten.
( Übersetzt von Christoph Timpe )