Berlin ist die moderne, korrekte, dynamische und vielseitige Hauptstadt eines modernen, korrekten, dynamischen und vielseitigen großen Staates. Selbstverständlich mit allen Einschränkungen gegenüber den Städten und Staaten dieser Erde.
Die Begeisterung über das Ende der deutschen Teilung hat frische Hoffnungen geweckt, und mit Genugtuung wurden sogleich ganz konkrete und bewundernswerte Bauten errichtet.
In den letzten 20 Jahren ist in Berlin viel investiert worden. Mit optimistischem Blick auf das neue Jahrhundert sollten so die schmerzlichen Wunden des letzten Krieges und seines schändlichen Nachspiels endgültig geschlossen werden.
Große Architekten haben ihr Bestes gegeben, der Stadt zweckmäßige, lichtdurchflutete und umweltverträgliche Gebäude zu schenken, große, mittlere und kleinere Investoren haben sich die Finger geleckt bei dem Gedanken an den Wiederaufbau des Jahrhunderts.
Seit Jahren strömen die Touristen zu den modernen Wunderwerken: Reichstagskuppel, Hauptbahnhof, Potsdamer Platz, die wieder hergestellten Hackeschen Höfe, eine Art Vorgänger der modernen Einkaufszentren…
Das ist eine Stadt, in der sich selbst junge Leute älter vorkommen als ihre Umgebung, in der Dreißigjährige bemerken können: Ja, früher stand hier nichts…
Junge Leute und Familien ziehen heute massiv in das neue gelobte Land Europas, in dem es anscheinend alles gibt, zumindest im Vergleich zu so manchem trüben Herkunftsort, der wirklich nichts mehr zu bieten hat.
Das Echo der Begeisterung springt von einem Blog zum nächsten, von einem Reiseführer zum anderen, alle sind wie im siebten Himmel. Berlin strotzt heute nur so von Touristen, neuen Einwohnern und Glückseligkeit.
Dank der neuen Medien werden Urteile und Meinungen augenblicklich von ungeahnten Massen wahrgenommen, und durch das Netz hallt das Lob auf die Attraktivität Berlins.
Beliebten Städten geht es wie berühmten Persönlichkeiten: sie verlieren ihre Privatsphäre. Jede Ritze wird permanent genüsslich durchleuchtet.
Die große Aufmerksamkeit gilt nicht nur den einschlägigen Stellen der Hauptstadt, sondern auch Ecken und Plätzen, die bislang völlig unbekannt waren. Nun werden auch sie in den Fokus der Öffentlichkeit gestellt.
Was bis vor Kurzem noch als nicht vorzeigbar galt, etabliert sich plötzlich zum unwiderstehlichen Kult und löst unter den Scharen bereitwilliger Anhänger Begeisterungsstürme aus.
Moden sind ja bekanntlich kurzlebige Massenphänomene, kollektive Suggestion verleiht ihnen aber enormen Schwung.
Die Hauptstädte vergangener Großreiche haben sich seit jeher zur Demonstration der eigenen Größe mit gigantischen Bauwerken geschmückt: man denke nur an das Flavische Amphitheater besser bekannt als Kolosseum, das mit Hilfe der Abgaben der Provinzen und der Plünderung des Tempels von Jerusalem errichtet wurde und nach wie vor als Symbol der Macht und sogar der Schönheit wahrgenommen wird. Das Jerusalem, das Mekka, die Ewige Stadt von heute sind, bei allem Respekt, ein bisschen Berlin.
Nun werden in dem neuen Gebäude, das gerade gegenüber dem Dom errichtet wird, dem zukünftigen riesigen Schloss, vermutlich niemals Gladiatoren gegen wilde Tiere kämpfen oder Gläubige geopfert, die sich weigern, das Staatsoberhaupt als ihren Gott anzuerkennen. Aber ein gewisses Bedürfnis nach Zurschaustellung kommt einem da schon bekannt vor.
Ein bisschen Pracht ist ja durchaus legitim. Aber die Pracht gerät leicht außer Kontrolle, und am Ende wird dann zwanghaft gebaut, ohne dass man noch wüsste, was eigentlich damit zelebriert werden soll.
Berlin wurde bekanntlich im letzten Krieg massiv bombardiert, und es hat Jahrzehnte gedauert, allein die Trümmer zu beseitigen.
Als Ostberlin Hauptstadt der DDR war, bemühten sich die moskautreuen Machthaber, der Stadt das überzeugende Gesicht einer sozialistischen Hauptstadt zu verleihen. Das ist auch gelungen, wenngleich unter Einbuße harmonischer Proportionen. Das Regime brauchte breite Straßen für die Aufmärsche, riesige Wohngebäude zur Unterbringung der Werktätigen, denen überdimensionierte Statuen das Format der Gründungsväter vor Augen führen sollten, und hohe, ganz hohe Türme, die weiter in den Himmel ragen sollten als alles, was der Westen zu bieten hatte. All das ist noch vorhanden, wenngleich überschattet von neuen Symbolen und neuen Idealen.
Blicken wir zurück auf das Berlin der Gründerzeit, dann zeigt sich abermals eine kaiserliche Haupstadt, machtvolles Wirtschaftszentrum und ausgelassenes Kulturzentrum eines expandierenden Reiches. Seit mindestens drei Jahrhunderten häufen sich also in Berlin die Vorstellungen von architektonischer Grandezza, beginnend mit dem Spätbarock, dem Neoklassizismus von Friedrich Schinkel, Jugendstil und Art Nouveau, bis zu den nur begonnenen, aber nie fertiggestellten abstoßenden Plänen des Naziarchitekten Albert Speer, dem stalinistischen Zuckerbäckerstil und dem Beginn der funktionalen Architektur der Nachkriegsjahrzehnte, die den zeitgenössischen Geschmack der lichten, essenziellen, aber dennoch gewaltigen Linien der neuen Bauten vorwegnehmen.
Die Gebäude der Stadt wurden stets mit Größe geplant, um großen Mengen von Besuchern Platz zu bieten.
Im heutigen Berlin schwärmen Junge und ewig Jugendliche mal hierhin mal dorthin und fühlen sich dabei frei wie nie zuvor. Unter Platzangst leiden sie offenbar nicht, und der Lebensstil ist überaus leger.
Natürlich ist nicht alles schön, was glänzt.
In dem großen Trubel durchdachter Vorzeigebauten und intelligenter Avantgarde schleichen sich durchaus auch grobe Klötze ein, die mit Kunst wenig zu tun haben. Die ehemalige preußische Haupt- und deutsche Kaiserstadt ist da wenig zimperlich. Sie lässt den Reigen fröhlich weiterlaufen, mit zusammenhangloser Vereinheitlichung auf zu neuen Abenteuern.
Der Zeitgeist ist elektrisierend, wie ein Strom reißt er mit. Er trägt wie eine Welle gemeinsamen Glücks.
Es ist schön, an einem solchen Ort zu leben, klar. Aber man kann auch leicht untergehen in den mächtigen Fluten, die mit Druck durch die attraktiven Stadträume treiben.
Diese große Stadt strebt seit Jahrhunderten nach der Anerkennung ihrer Rolle als Zentrum von Macht und intellektuellem Gewicht, sich selbst, der Nation, und der ganzen Welt gegenüber. Hierin liegt ihre eigentliche Natur. Wir wollen uns in diesen Zeilen dagegen gleichsam im Krebsgang bewegen, ein bisschen rückwärts, unter der Oberfläche. Die im Sonnenlicht funkelnden Symbole wollen wir beiseite lassen, und dafür den schwachen Atem der kleinen Dinge zu Gehör bringen.
Wer das Dröhnen der Touristenbusse und das Gleißen der belebten Straßen gewöhnt ist, der kann sich schon mal auf Orte einstellen, an denen Geräusche kaum vernehmlich sind, matte und einsame Stellen, einen Spaziergang durch Mondlicht also, nicht durch Sonnenschein.
Wir wollen uns einmal gegen den Strom bewegen, auf der Suche nach kaum bekannten, winzigen und unbeachteten Spuren eines vergangenen, vielfach vergessenen und doch immer noch vorhandenen Berlin.
Die Stadt, wie wir sie nie kennengelernt haben, ist nicht nur in Beschreibungen und Museen gut erhalten. An manchen geheimen Stellen kann man noch spüren, wie sie atmet, Orte, die scheinbar still, schattig und reglos daliegen, aber bei näherem Hinsehen viel zu sagen haben.
Und wenn solche zurückgezogenen und melancholischen Orte anfangen, ihre Geschichte zu erzählen, dann merkt man, dass man Berlin durchaus von seiner stillen Reserviertheit her kennenlernen kann, und wie das, was Berlin nicht öffentlich macht, sogar mehr faszinierendes zu bieten hat als was die Stadt selbst zu Markt trägt.
Wollte man sich auf eigene Faust auf die Reise in diese Schattenwelt begeben, würde Schwindel und Übelkeit einen leicht übermannen, doch mit der rechten Führung wird alles leicht und angenehm.
Die einzige Begleitung, die für solche Unternehmungen in Frage kommt ist ein Dichter, eines dieser halb menschlichen halb außerirdischen Wesen, die ihren Spleen pflegen und sich von kosmischer Melancholie nähren.
Real existierende Dichter sind extrem schwer zu finden, und wenn man denn einen zur Verfügung hätte, würde er sich angesichts der praktischen Aufgabe in Luft auflösen.
Für unseren Zweck muss es reichen, dass wir von Zeit zu Zeit in unserer Vorstellung eine zerbrechliche Figur entstehen lassen. Dieses zierliche Wesen wendet sich an uns in unserer Sprache, aber mit einem Hauch von britischem Akzent. Ein fahrender Dichter soll er sein, schmal und blass, mit Brille und ernstem Gesicht, kommt von weit her und hat die Räume der Jahrhunderte durchmessen. Ich will euch, soll er sagen, auf nachdenklichen Pfaden die stilleren Reize von Berlin zeigen.
Mit scharfen Sinnen und auf leisen Sohlen verfolgt er seine unergründliche Spur. Er tritt durch die Trümmer des verhängnisvollen Krieges, aus denen aufgegebene Radaranlagen der Alliierten aufragen, grüßt die Väter des preußischen Vaterlandes, die versteinert dem Trubel der Hauptstadt trotzen, schleicht um ein altes Cembalo und bleibt vor einer von Bombensplittern zernarbten Wand stehen.
Er lauscht der existenziellen Klage des hohen und berühmten Turms, gräbt in den Archiven einer Diktatur die sich selbst sucht, und springt mit einem Satz in den Garten einer weißen Moschee.
Gelassen schleicht er im Licht der Jugendstil-Laternen der letzten öffentlichen Badeanstalt und gelangt schließlich zu einem Friedhof.
Hier schlendert er zufrieden zwischen den Gräbern umher, in denen die menschlichen Reste so mancher Geschichten ruhen. Er hört zu, liest, und sinkt in die Tiefen der Zeit.
Aufgetaucht aus der Ewigkeit, trifft er auf die Massen am Tor der Stadt.
Übersetzt von Christoph Timpe