Tempelhof

Raffaela Rondini

Oh Tourist, der du voller Erwartungen nach Berlin kommst, besuche mich! Ich bin Celeste, eine Freundin von Clara, der jungen Reichstagskuppel, von Sibylle und Ludmylle, die Kuppeln am Frankfurter Tor, und Isabelle, der Kuppel des französischen Doms am Gendarmenplatz.

Komm, ich will dir meine Geschichte erzählen.

Meine Adresse ist: Tempelhofer Feld, ich befinde mich genau zwischen den Stadtteilen Tempelhof, Kreuzberg und Neukölln.

Es gibt viele Möglichkeiten, mich zu erreichen: Du kannst den Bus, Linie 104 nehmen, oder mit der U6 bis Platz der Luftbrücke, Paradestraße oder Tempelhof fahren, wo es auch eine S-Bahnstation der Linien S41 und S42 gibt.

Geh in den Park und lege dich in der Mitte auf die Wiese, den Blick nach Westen gerichtet. Siehst du dieses grüne Meer rings um dich herum? Es sind mehr als 300 Hektar Wiesenlandschaft. Im Westen bilden die Hangarhallen des ehemaligen Zentralflughafens Tempelhof eine bogenförmige Eingrenzung, die sich in einer mehr oder minder dichten Reihe von Bäumen und Büschen um das gesamte Gelände herum fortsetzt. Wenn du jetzt deine Augen vom linken Rand in die Höhe und wieder hinunter zum rechten Rand wandern lässt, siehst du mich: Ich bin eine Kuppel und befinde mich genau über dir. Mein Name ist Celeste, die Himmlische, eben weil ich eine Himmelskuppel bin.

Unter meinen Augen hat sich viel ereignet, besonders in den letzten zweihundert Jahren. Zurückhaltend, wie ich bin, habe ich noch nie jemandem davon erzählt, doch heute fühle ich mich so frei und leicht…

Wenn du an einem sonnigen Sonntag vor 200 Jahren hier gewesen wärst, hättest du auf der Wiese Frauen in langen Gewändern mit bauschigen Ärmeln spazieren gehen sehen, an ihrer Seite Kinder in Matrosenanzügen, die Mädchen mit Reifen und Bällen. Die Männer folgten zugeknöpft in dunklen Anzügen mit Krawatte, Weste und Gehstock. Du hättest Pferde laufen sehen, und vielleicht den exklusiven Reitverein besuchen und ein Bad in dem See nehmen können, den es heute nicht mehr gibt.

Du hättest die Paraden des Preußischen Heers miterleben können, eine Flut von Pickelhauben. Du hättest die Marschmusik und die Trompetenfanfaren hören, und die Truppen an Werktagen heimlich beim Exerzieren beobachten können.

Ein Glück, dass du nicht am 12. Juni 1897 zugegen warst, als ein motorbetriebener Ballon in die Luft stieg und kurze Zeit später explodierte und dabei der Erfinder Hermann Wölfert und sein Mechaniker ums Leben kamen.

Wir waren damals alle flugbegeistert!

Am 5. September 1909 führte Orville Wright sein neues Aeroplan vor. Auch du hättest gemeinsam mit den hunderttausenden Schaulustigen begeistert applaudiert, als er nach einem 19-minütigen Flug wieder sanft auf dem Feld landete.

1923 wurde offiziell der Zentralflughafen auf dem Tempelhofer Feld eröffnet. Anfangs gab es nur wenige Fluggäste, die sich an einige ebenso verbindliche wie prosaische Regeln zu halten hatten: Sie waren verpflichtet, eine Schutzbrille zu tragen, während es ihnen verboten war, mit Schals und Hüten zu winken (diese hätten sich im Getriebe verfangen können), vor dem Start Wasser oder alkoholische Getränke zu trinken sowie Schwarzbrot, Bohnen oder Erbsen zu essen…

1926 habe ich die Geburtsstunde der Lufthansa miterlebt, hervorgegangen aus der Fusion der Junkers Luftverkehr AG mit der Aero Lloyd, die im Mai mit dem ersten Linienflug Berlin-Paris gefeiert wurde. 8 Stunden dauerte der Flug, mit Zwischenlandungen in Essen und in Köln.

Am liebsten aber erinnere ich mich daran, wie wir alle auf Clarence gewartet haben. Es war um 5:30 Uhr am Morgen des 4. Juni 1927. Alle waren sehr aufgeregt, ich am allermeisten. Er kam direkt aus New York! Die Leute warfen ihre Hüte in die Luft, die Flughafen-Sirenen heulten, die Menge schrie vor Begeisterung, und über allem lag das Brummen seines Flugzeugmotors. Vor der Landung drehte er noch eine Runde über dem Flughafen. Ich glaube fast, Clarence Chamberlain hat es für mich getan. Er ist dann mit einer eleganten Bewegung aus dem Flugzeug gestiegen, lächelnd und wunderschön anzusehen. Nie werde ich das vergessen. Columbia hieß sein Flugzeug, und noch heute wird die lange Straße am nördlichen Rand des Feldes Columbiadamm genannt.

Im darauf folgenden Jahr wurde viel gebaut, eine Menge an Arbeitern war im Einsatz, ich kam nicht zur Ruhe. Vor allem aber tat ich mich schwer, zu verstehen, was hier geschah. Nach dem Flugzeug von Clarence benannten sie nämlich auch das Gefängnis, das sie genau dort, wo der neue große Flughafen entstehen sollte, bauten. Im so genannten Columbiahaus wurden politische Häftlinge gefangen gehalten. Ich habe gesehen, wie Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten, Philosophen, darunter Sozialdemokraten, Juden und Kommunisten das Gefängnis betraten. Ich habe gehört, dass man sie in die Prinz-Albrecht-Straße brachte, wo sich das Hauptquartier der Gestapo befand. Ich sah sie nie wieder.

Später wurde das Columbiahaus abgerissen, um Platz zu schaffen für den „größten und schönsten zivilen Flughafen der Welt“, so Hitlers Worte.

An den 1. Mai 1933 kann ich mich gut erinnern. Der gesamte Luftverkehr wurde an diesem Tag nach Staaken umgeleitet, um auf dem Tempelhofer Feld die Kraft, die Macht und die Unbesiegbarkeit des Nationalsozialismus zu demonstrieren. Vier monumentale Hakenkreuze magnetisierten die entseelte Menge. Es sprach Dr. Joseph Goebbels, und ich hatte Angst.

Zuweilen fragt mich meine junge Freundin Clara, die schöne Kuppel vom Reichstag: „Aber wo warst du? Warum hast du nichts dagegen unternommen?“ Und ich weiß nichts anderes zu antworten, als dass ich Angst hatte.

Der neue Flughafen war von gigantischen Ausmaßen, die Empfangshalle mit den angegliederten Hangars galt als das größte Gebäude der Welt, die bogenförmige Gestaltung als außerordentlich dynamisch und modern. Das Gebäude war 1230 Meter lang und wies eine Fläche von 284.000 m2 auf.

Hitler hatte den Flughafen gewollt, nicht zuletzt, um die Kritiker aus dem europäischen Ausland zum Schweigen zu bringen, doch diese fuhren mit ihrer Kritik fort.

1936 fanden die Olympischen Spiele in Berlin statt. 200.000 Fluggäste starteten und landeten in diesem Jahr unter meinen Augen. Im Juni wurde angeordnet, alle antisemitischen Schilder zu entfernen, um der Welt vor Augen zu führen, dass Deutschland ganz und gar nicht rassistisch war. Am 1. August waren alle Vorbereitungen abgeschlossen und die Olympiade begann. Für mich waren es zwei Wochen voller Angst und Schrecken. Aber das Schlimmste hatte ich noch nicht gesehen.

1939 begann der Krieg, die Lufthansa schränkte den zivilen Luftverkehr drastisch ein. Der Ausbau des Flughafens kam zum Erliegen, stattdessen wurden Baracken für Zwangarbeiter auf dem Flughafengelände errichtet, 15 an der Zahl, entlang des Columbiadamms. Frauen, Juden und Slawen wurden hier kaserniert, sie mussten für die Weser Flugzeugbau GmbH arbeiten, die Jagdflugzeuge und Kampfbomber statt ziviler Flugzeuge baute. Ich habe gesehen, wie 2000 Zwangsarbeiter die Jagdflieger FW 190 und die Sturzkampfbomber Ju 87, kurz Stukas genannt, montierten. Auch die Lufthansa stellte sich in den Dienst des Militärs. Sie beschäftigte 400 Zwangsarbeiter, darunter auch 12- bis 15-jährige Kinder.

Unter mir war das Grauen, ich war wie versteinert.

Nach sechs unendlich langen Jahren und großem Schmerz marschierte die Rote Armee ein, zerstörte hier und dort das, was zuvor noch nicht den Bomben zum Opfer gefallen war, und hisste auf dem Dach des Flughafens, direkt neben den Naziadler, die Rote Fahne. Bevor die Amerikaner einrückten, nutzten die verzweifelten Berliner die Flugzeugwerkstätten, um dort die Autowracks aus der Umgebung wieder flott zu machen und sie dann den Russen oder den Engländern zu verkaufen.

Bei der Aufteilung Berlins in vier Sektoren fiel Tempelhof den Amerikanern zu. Auf dem Feld unter mir wurde nun Amerikanisch gesprochen. Geplant war, hier einen Luftwaffenstützpunkt einzurichten, aber sie sagten, der Rasen sei als Untergrund nicht geeignet, die neuen Flugzeuge zu tragen, und so bauten sie eine metallene Piste von fast zweieinhalb Kilometern Länge. Es war im Frühjahr 1946, als die erste zivile DC4 der Amerikaner hier landete. Auf dem Flughafen herrschte ein großes Durcheinander, auch machte sich eine gewisse Anspannung bemerkbar.

Drei Tage nach der Sonnenwende im Sommer des Jahres 1948, am Johannistag, blockierten die Russen alle Land- und Seewege von und nach Westberlin. Die Amerikaner, die Engländer und die Franzosen richteten daraufhin eine kolossale Luftbrücke ein, um die Stadt mit Rohstoffen zu versorgen. Die meisten Flugzeuge, aus Frankfurt, Hannover und Hamburg kommend, landeten hier in Tempelhof. In Windeseile luden sie Lebensmittel, Kohle und Baustoffe aus und flogen wieder zurück. Den Piloten blieben nur wenige Minuten, um einen Kaffee an der mobilen Bar an der Piste zu trinken, und schon ging es weiter. Dieser Wahnsinn dauerte ein Jahr, währenddessen ich nicht zur Ruhe kam. An Schlafen war nicht zu denken: Tag und Nacht landeten und starteten Flugzeuge. Zum Verrücktwerden.

In den ersten Tagen der Luftbrücke kamen Maschinen vom Typ C47 zum Einsatz, die den zivilen DC3 entsprechen. Später wurden sie durch die C54 ersetzt, ähnlich den zivilen DC4, die ein Dreifaches an Ladung aufnehmen konnten. Wir waren alle wie hypnotisiert, ständig schauten wir nach oben. Viele kletterten auf die Dächer, um besser zu sehen. Der Pilot Oberst Gail Halvorsen kam auf die Idee, vor der Landung Süßigkeiten für die Kinder abzuwerfen. Seitdem nannten wir die Flugzeuge auch „Rosinenbomber“ .

Als Dank für die erhaltene Hilfe wurde am 10. Juli 1953 das Luftbrückendenkmal Eduard Ludwigs, Professor an der Akademie der schönen Künste, vom Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter eingeweiht, der seine Festrede mit den Worten beendete: „Es lebe die Freiheit!“

Zwei Jahre später starb er an einem Herzinfarkt, ohne die Mauer gesehen zu haben. Die Berliner tauften das Denkmal sogleich auf dem Namen „Hungerharke“ um. Es symbolisiert die drei Luftkorridore der West-Alliierten und befindet sich heute auf dem Platz der Luftbrücke. Ursprünglich sollte das Denkmal in Aluminium ausgeführt werden, aus Mangel an Metallreserven wurde es dann aber aus Stahlbeton hergestellt. In Frankfurt und Celle wurden später korrespondierende Nachbildungen des Denkmals aufgestellt.

Zwischen 1953 und 1957 unterhielten die Amerikaner die so genannte Kinderluftbrücke, mit der bedürftige Kinder aus Berlin einmal im Jahr zu ihren Gastfamilien nach Westdeutschland geflogen wurden, um dort unbeschwert Urlaub zu machen.

Am 14. Juli 1950 wurde ein Teil des Flughafens wieder für den zivilen Luftverkehr freigegeben, der von Jahr zu Jahr zunahm. 1959 wurde dieser Bereich, zu Lasten der militärischen Nutzung, noch einmal erweitert. 1962 wurde die große Empfangshalle ausgebaut und modernisiert, bei dieser Gelegenheit entfernte man auch den Naziadler vom Dach des Gebäudes.

Mit der Zeit wurden die Flugzeuge immer größer und stärker und benötigten immer längere Pisten. Die zwei vorhandenen besaßen jeweils eine Länge von gut zwei Kilometern und ließen sich kaum noch verlängern. Man verlagerte daher den Flugverkehr, auch um die Lärmbelastung im Stadtzentrum zu verringern, schrittweise nach Tegel.Von der amerikanischen Militärbasis aus wurde mithilfe ausgeklügelter Radarsysteme nach wie vor der gesamte Luftraum kontrolliert, bis Präsident Bill Clinton 1994 die Berlin Brigade auflöste. 2008 hob die letzte Linienmaschine von Tempelhof ab.

Und nun, lieber Besucher, sag du mir, was du siehst!

Der Park, in dem du dich befindest – er wurde am 8. Mai 2010 für den Publikumsverkehr geöffnet -, ist der größte Berlins, und ich, Celeste, bin die größte Kuppel der Stadt. Meine Weite vermittelt dir das Gefühl, frei zu sein. Das ist mein Daseinszweck: Frei zu leben und Freiheit zu spenden. Breite deine Arme aus, schau mich an und drehe dich um deine eigene Achse! Wie fühlst du dich? Tu es noch einmal! Hier muss man schon einiges tun, um andere in Staunen zu versetzen. Du befindest dich am freiesten Ort Berlins. Nur Mut, lass die Beengtheit der Stadt hinter dir! Wo bist du genau? Begib dich in die Mitte des Feldes, den Biergarten zu deiner Rechten, der hier übrigens Luftgarten heißt. Er ist für einen Biergarten nicht schlecht, es gibt die üblichen Gerichte, jedoch gut zubereitet. Es ist nicht wirklich günstig, aber für ein Mal…

Vor dir sollte jetzt der Bogen des Flughafengebäudes liegen. Zwei Drittel davon wurden zivil genutzt, der hellblau gestrichene Teil zur Rechten mit dem Schriftzug US Army Aviation unterstand dem amerikanischen Militär. Der überdimensionierte Golfball auf dem über 70 Meter hohen Turm beherbergte die Radaranlage. Darunter befand sich der Versorgungsbereich und noch heute ist diese Zone für Besucher gesperrt und mit Toren, Stacheldraht und Überwachungskameras gesichert. Dies ist der letzte verbliebene Rest des militärischen Bereichs, der nicht so sehr der Erinnerung dient, als einem ganz bestimmten Zweck, den ich dir schon wegen der sprichwörtlichen Verschwiegenheit, die man uns Kuppeln nachsagt, aber nicht nennen werde. Ich rate dir nur, dir nicht in den Sinn kommen zulassen, dich gerade dort frei zu fühlen. Überall im Park kannst du tun und lassen, was du willst, halte dich aber fern von dort, wenn du es nicht mit der Bundeswehr und der NATO zu tun bekommen willst. Folge meinem Rat und stelle keine weiteren Fragen. Punkt. Auch wenn du junge Leute sehen solltest, die im Hof zur Tarnung Ping-Pong spielen. Es ist jedenfalls kein Erholungszentrum.

Und jetzt sag mir, was für ein Tag heute ist. Wenn es ein Werktag ist, gehört das grüne Meer dir und anderen Freiheitsliebenden wie dir. Wenn es Samstag, Sonntag oder Feiertag ist, befindest du dich in guter Gesellschaft.

An der nördlichen Seite des Feldes findest du Tennis-, Basket-, Baseball-, Softball- und Beachsportplätze kurioserweise genau dort, wo früher jene 15 Baracken standen, in denen die Zwangsarbeiter untergebracht waren. Wie klingt das: Softball-Beachsport-Lager? Meine Freundin Isabelle vom Gendarmenmarkt würde sagen, dass es unharmonisch klingt. Ich aber, Celeste, sage: Berlin, die Geschichte, nichts ist harmonisch.

Am Gendarmenmarkt würde man das nicht akzeptieren, sie legen dort Wert auf Harmonie. Hier aber löst sich alles in Luft auf. An der Nordseite befindet sich auch das Pionierfeld Columbiadamm 2010-2014. Auf einer Fläche von 14.000 Quadratmeter wurden zahlreiche soziale Projekte sportlicher und kultureller Art realisiert. Unter dem Motto „Biodiversität statt Monokultur“ wurde hier beispielsweise der „Stadtacker“ angelegt, ein ständig wachsender urbaner Gemeinschaftsgarten unter Beteiligung der Anwohner des Tempelhofer Felds. Sieh mal, ob du die Amaranthpflanze und das „Insektenhotel“ finden kannst.

18 Künstler haben hier eine Mini-Golf-Anlage der besonderen Art geschaffen. Es ist kein Kinderspiel, auf den kunstvollen Bahnen einzulochen. Die Botschaft der Künstler: Dabei sein ist alles! Und dann gibt es noch den Shaolin-Tempel, wo buddhistische Zeremonien abgehalten werden, Tai Chi, Qigong  und Chan-Mediationen.

Am Wochenende stellt man fest, dass sich direkt neben dem Tempel die Pick-Nick-Zone anschließt. Das Barbecue ist die türkische Art, Feste zu feiern. Dutzende von türkischen Großfamilien verbringen ihre Wochenenden beim Grillen. Seitdem das Grillen im Tiergarten verboten wurde, werden es immer mehr. Die buddhistisch-muslimische Grenze ist aber durchlässig: Der Duft gerösteten Fleisches ist überall, doch Buddhisten lieben es bekanntlich, sich in Gelassenheit zu üben.

Gegenüber vom ehemaligen Flughafengebäude gibt es einen weiteren Parkeingang an der Oderstraße auf Neuköllner Seite, einem jungen, vitalen Bezirk, der alle Vor- und Nachteile eines multikulturellen Viertels in sich vereint. Mit großem Erfolg wurde hier unter Mitwirkung zahlreicher Neuköllner ein weiterer städtischer Garten angelegt, eine der weltweit größten Hochbeetanlagen mit dem Namen Almende Kontor.

Ein Traum wurde wahr: inmitten der Stadt naturverbunden leben!

Und doch war diese Idylle zwischenzeitlich durch ein umfangreiches Wohnungsbauprojekt bedroht. Meine besten Freunde sind seit jeher zwei alte Platanen, Ernst und Knut, sie stehen unweit des Buddhistischen Tempels. Zwischen die beiden Bäume hatte man eines Tages ein hölzernes Infohäuschen gestellt, wo die auf dem Feld und rund um das Flughafengebäude geplanten Projekte erläutert wurden. Seitdem hatte es zwischen ihnen kein anderes Gesprächsthema mehr gegeben. Ernst unterstützte das Bauvorhaben einer neuen Zentralbibliothek und eines Parksees, und Knut hätte das neue Dachterrassenrestaurant  und die dort oben herumlaufen jungen Frauen nur allzu gerne von seiner tiefer liegenden Warte aus betrachtet. Sie redeten und redeten und merkten gar nicht, wie langweilig sie waren. „Wie ihr euch an die Zukunft klammert“, schalt ich sie, „ ich erkenne euch nicht mehr wieder!“ „Und du, Celeste“, konterten sie, „du hast deinen Kopf doch immer in den Wolken.“  „Wo sollte ich ihn den sonst haben?“, entgegnete ich, und schon lachten wir wieder versöhnlich miteinander. Was sie nicht wissen konnten, war, dass über die Zukunft des Tempelhofer Feldes zu diesem Zeitpunkt längst schon entschieden worden war. Die 12 berühmtesten Architekten der Welt  – ich darf keine Namen nennen – hatten sich zuvor auf dem Feld getroffen, um einen Rundgang zu machen und einen Architekturwettbewerb zur zukünftigen Gestaltung des Tempelhofer Feldes zu organisieren. Eine erste Vorauswahl wurde mittels einer schriftlichen Prüfung getroffen, der sich 73 Architekten, Ingenieure und Techniker aus allen Sparten unterzogen. Das Thema lautete: „Die Beziehung zwischen dem Schöneberger Gasometer und dem ehemaligen Flughafen Tempelhof“. Da die 12 größten Architekten der Welt es verabscheuten, Texte mit Rechtschreibfehlern zu lesen, schlugen sie als Prüfungsverfahren einen Multiple-Choice-Test vor. Dazu mussten die Kästchen neben den möglichen richtigen Antworten angekreuzt werden, und die Antworten selbst wiederum mit der Anmerkung „ja, aber das ist nicht der Punkt“ oder „und das genau ist der Punkt“ versehen werden. Es gab 6 mögliche Antworten:

A)   Nicht existent

B)   Unterschiedlich

C)   Homosexuell

D)   Sadistisch mit Dominanz des ersteren über den letzteren

E)   Interessant

Lediglich einer der 73 Kandidaten bestand die schriftliche Prüfung und wurde für die mündliche zugelassen. Die richtige Lösung lautete:

A), B), C), D), E) zutreffend. A), C), D) zutreffend mit dem Zusatz: „aber das ist nicht der Punkt“. B), E) ebenfalls zutreffend mit dem Zusatz: „und das genau ist der Punkt“. Schwierigkeiten hatte der junge Kandidat unmittelbar vor der mündlichen Prüfung: Er musste sich einen nach dem anderen sämtliche Ohrringe abziehen, seine Tatoos unter einem schönen weißen Hemd verbergen und sein Skateboard vor dem Prüfungssaal parken. Schließlich entspannte er sich wieder und trat braungebrannt und selbstgewiss lächelnd ein. Er begann zu reden, und seine ersten Worte bestätigten bereits, dass er die geforderte Kompetenz besaß. „Jeden Tag fahre ich die beiden Pisten auf dem Tempelhofer Feld mit meinem Skateboard dreimal auf und ab, ich kenne die Problematik. Das Gelände ist trügerisch.

 

Rundherum sind die Silhouetten der höchsten Gebäude der Stadt zu sehen: der Fernsehturm, die Minarette der nah gelegenen Moschee, die Schornsteine der (teilweise stillgelegten) Fabriken, die Kirchtürme, die Hochhäuser und der Schöneberger Gasometer. Dies alles befindet sich ganz einfach im Umkreis des Tempelhofer Feldes, doch mysteriöserweise kann all dies ebenso einfach verschwinden: Es ist ganz einfach eine Frage des Standpunkts. Wenn ich von der Neuköllner Seite aus auf den Flughafen blicke, trägt er eine Dornen-Krone. Da haben wir es, denke ich, der Gasometer ist wieder auf das Flughafengebäude gestiegen. Eine halbe Pistenlänge später sehe ich, dass der Gasometer langsam vom Flughafengebäude absteigt und sich an dessen Seite niederlässt, um dann nach einem weiteren Viertel Piste ganz hinter ihm zu verschwinden. Der Tanz des Gasometers mit dem Flughafen ist für unsere Belange irrelevant und von substanzieller Bedeutung zugleich. Irrelevant ist er als Ausdruck gänzlich privater Entscheidungen, die uns nichts anzugehen haben. Von substanzieller Bedeutung ist er hingegen in Anbetracht der Tatsache, dass die Dinge immer nur abhängig vom Betrachter und dessen Standpunkt so sind, wie sie uns erscheinen. Das ist unbedingt zu berücksichtigen,  wenn man Entscheidung trifft, die Konsequenzen für die Gesellschaft als Ganzes zur Folge haben. Ein architektonisches Werk ist niemals nur eine öffentliche oder private Investition.   Das Allgemeinwohl muss stets im Auge behalten und die einzelnen Standpunkte gegeneinander abwägt werden.“ „Gut, bravo!“, fielen die zwölf besten Architekten der Welt im Chor ein und erteilten dem jungen Skateboarder den reich dotierten Zuschlag für die Gestaltung des Tempelhofer Feldes, dessen Zukunft nun in seinen Händen lag.

 

Die Zwillingskuppeln vom Gendarmenmarkt sagen, ich sei asozial. Aber ich bin seit eh und je hier und kenne jede der 236 auf dem Feld lebenden Bienenarten mit Namen und unterstütze die 40 vor dem Aussterben bedrohten Arten. Ich hänge es nicht an die große Glocke, wenn ich sehe, wie die Kuckucksbienen ihre Larven anderen Bienen unterjubeln und sie von ihnen  großziehen lassen. Ich unterhalte mich tagtäglich mit Lerchen, Grünfinken, Grauammern, Schwalben, Kornkäfern, grauen Krähen, Mäusebussards und Turmfalken!

Ich bade in einem Meer wehenden Hafers, zwischen Ackerbohnen, rosa Elchen, Kapuzinerkresse und Winden. Den Zikaden bringe ich Kühlung!

Alles kann man mir nachsagen, nur nicht, dass ich asozial sei!

Ein gewisser Vorteil, den wir Kuppeln gegenüber den Bäumen haben, ist, dass wir die Dinge aus einem weiteren, höheren Blickwinkel betrachten können. Das gilt in besonderer Weise für uns Luftkuppeln, die wir zusätzlich über Eigendynamik verfügen – eine wesentliche Vorraussetzung, um komplexe Sachverhalte zu begreifen. So wie es für ein gutes Projekt mehr als nur eines guten Stifts bedarf – man muss sich mit den Örtlichkeiten vertraut machen, die Blumen wachsen sehen, das Brot mit den Menschen teilen, den Duft des Grillfleisches riechen, wie ja auch Leonardo, Otto Lilienthal und die anderen großen Pioniere die Vögel beobachteten, um das Geheimnis des Fliegens zu verstehen -, so müssen wir heute die Drachen beobachten, um die Zukunft des Tempelhofer Felds zu erkennen.

Ich habe dich eingeladen, werter Tourist, nicht um dich mit unseren städtischen Zwistigkeiten zu langweilen – die wirst du selbst zur Genüge kennen, woher auch immer du kommst. Du bist hier, um dich zu Vergnügen und die Stadt kennenzulernen, und ich lasse dich einen ganzen Tag auf diesem Feld vertrödeln. Doch du wirst sehen, es ist ein magisches Feld. Ein Feld mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auf dem du dich von Obsessionen, wie der aufdringliche Fernsehturm eine ist, befreien kannst. Es gibt Stellen, an denen der ansonsten stets sichtbare Turm auf mysteriöse Weise verschwindet, in irgendeinem magischen Bermudadreieck untergetaucht oder gefangen hinter einem Baum.

Auf dem Feld ist ein komplettes Flugzeug versteckt, man muss schon ganz genau hinschauen, um es zu entdecken. Es ist ein Reich der Fata Morgana. Bei großer Hitze verwandeln sich die Pisten in flimmernde Seen.

Auf dem Tempelhofer Feld ist ganz Berlin präsent, das nahe und das ferne, das gegenwärtige und das vergangene. Der ehemalige Flughafen symbolisiert noch immer die einstmals furchtbare Macht der Stadt, die jetzt einem schlummernden Riesen gleich einer neuen Bestimmung harrt. Zugleich ist da das viel beschworene Grün, für das Berlin so bekannt ist.

Es gab eine Unzahl von Versammlungen über die Wahl der zukünftigen Investitionen, es gab die Investoren mit ihren Interessen, es gab den Berliner Senat, der von Geldsorgen getrieben ein Drittel des alten Flughafengebäudes an Veranstalter von Messen, Events und Konzerten oder längerfristig an diverse Unternehmen vermietet hat. Da sind die umtriebigen Bürger der Stadt, organisiert und spontan zugleich. Da ist die Liebe zur Natur und das Bedürfnis nach Freiheit sowie die gesunde Überzeugung, dass sich beides am besten bewahren lässt, nicht indem man allein oder der eine gegen den anderen agiert, sondern indem man gemeinsam handelt. Mit dieser Überzeugung werden wir es weit bringen, angetrieben vom typisch deutschen, aber transformierten Ehrgeiz, Großes und Gutes zu leisten. Es gibt die so genannten Minderheiten, die so sehr Minderheiten gar nicht sind.

Celeste, die Grüne, nennt mich meine Freundin Clara vom Reichstag. Das kränkt mich. Ich bin weder grün, noch rot, blau, schwarz und auch nicht regenbogenfarbig. Ich bin himmlisch, basta. Ich bin durch und durch Städterin, deshalb liebe ich meine Stadt so sehr. So wie auch die Bewohner von Neuköln, Kreuzberg und Tempelhof Städter sind. Bedeuten 300 Hektar Freiheit einen zu großen Luxus für drei Bezirke?

Man fühlt sich so wohl hier! Die Ausgaben für das Justiz- und das Gesundheitswesen würden sich verringern, das kann ich, Celeste, euch versichern. Was denkst du, werter Besucher, welche Eindrücke nimmst du mit nachhause?

Nimm am Forum teil, sei einer von uns. Du hast das Rederecht, nachdem du die Pisten und die Wiesen der Länge und Breite nach abgelaufen bist, mit oder ohne Drachen, und nachdem du zu den Vögeln gesprochen und den Blumen zugelächelt hast.

Übersetzt von Alberto Faussone

6 Jahren vor