Frankfurter Tor, Berlin, 27. Januar 2013, 14:51
Aufnahme Nr. 8752
Ludmylle (singt):
… Es war `ne lange kalte Zeit, du wohntest nah und doch so weit, du warst damals
in der DDR und ich dachte eh, wie schön das wär‘, wenn die Mauer fällt, ja, das wollen wir
sehen und uns endlich gegenüber stehen. Wir waren doch Freunde, irgendwie verwandt,
haben uns nur noch nicht gekannt…
Sibylle: Udo Lindenberg, Damals in der DDR.
Ludmylle: Udo Lindenberg, du sagst es. Wer kennt ihn nicht. Dieses Lied war die Titelmelodie eines preisgekrönten Dokumentarfilms über die DDR. Und jetzt haben sie ausgerechnet uns gebeten, als Zeitzeuginnen etwas über die Karl-Marx-Allee zu erzählen. Morgen kommt ein Fernsehteam, um uns zu interviewen. Sie wollen einen Film über unsere Allee drehen. Warum sind sie so neugierig? Was wollen sie von uns wissen? Und warum sollten gerade wir ihnen etwas erzählen? Ganz ehrlich? Am liebsten würde ich sie alle in den Westen, zum Wittenberg Platz schicken. Ich kann diese Spezies von Reportern nicht mehr sehen, sie scheinen alle direkt aus Disneyland zu kommen. Mir kommen sie vor wie Pauschal-Touristen auf einer all inklusive-Schnäppchenreise: „Disneyland – Ost-Berlin, einmal bungee-jumping inklusive, für nur 99 Euro“. Ich sehe sie vor mir, wie sie verloren dastehen und ihren Augen nicht trauen: „Mein Gott, was für ein unmenschlicher Platz! Heilige Jungfrau, welche kosmische Leere! Jesus, was für ein diffuses Grau! … Wo gibt ́s hier einen McDonalds, eineToilette, einen Bankomat, Pizza am Stück, Karstadt, Desigual, einen Doppeldeckerbus …?“ Was soll das? Wozu kommen die hierher? Aquì no tenemos Desigual, aqui esta todo simétrico! Claro? La pizza si mangia a Napoli, et vous allez à la toilette chez-vous! Die DDR gibt es nicht mehr. Schluss, Aus. Go back to Zoo. Hier gibt es nichts zu sehen.
Sibylle: Wenn wir morgen so mit den Journalisten sprechen, Ludmylle, werden sie zu recht sagen, wir aus dem Osten seien ein wenig verwildert. Wenn wir ihnen nichts erzählen, werden sie bestimmt zum Fernsehturm oder zum Palast der Republik gehen und die fragen…
Ludmylle: Den Palast der Republik haben sie schon kalt gemacht.
Sibylle: Ach ja, siehst du? Besser, wir reden. So erfahren sie, dass wir zum Weltkulturerbe gehören, und wir retten unsere Haut. Es geht um Leben oder Tod.
Ludmylle: Die Genossin Ludmylle ist bereit! Beginnen wir mit unserem KaDeWe!
Sibylle: Wie bitte?
Ludmylle: Humana First-Class Second-Hand steht zum KaDeWe wie das Frankfurter Tor zum Wittenberg Platz. Das Reich des Gebrauchten trifft auf die Apotheose des Konsums. Einmal abgesehen von der Bananenabteilung sind Humana und KaDeWe praktisch gleich! Nur die 6., die so genannte Feinschmecker-Etage, die haben wir nicht: Humana hat nur 4 Etagen.
Sibylle: Das, was du Bananenabteilung nennst, ist die größte und bestsortierte Delikatessenabteilung Europas: Auf 10.000 m2 frisch importierte Produkte aus aller Herren Länder: Kaviar, Käse, Wein und Getränke aller Art, exotische Früchte …
Ludmylle: Ich sag ja, Bananen.
Sibylle: Französische, italienische, asiatische Delikatessen…
Ludmylle: Im Prinzip sind das doch auch alles nur Bananen: 10.000 m2 dekadente Bananen. Komm schon, Sibylle, nur frei heraus! Du weißt genau, dass von einem anthropologischen Standpunkt aus betrachtet Humana viel interessanter ist als das KaDeWe. Wir haben eine Vintageabteilung im 3. Stock und auch eine Abteilung mit Brautkleidern.
Sibylle: Ja, mit Flecken und Rissen auf dem Strass, … aber wer hätte die nicht?
Ludmylle: Nun gut! Wir haben ein großes, nützliches und aus anthropologischer Sicht beispielloses Kaufhaus des Volkes, und wir haben die Ehre, der Welt die Karl-Marx-Allee präsentieren zu dürfen! Seht alle her, es ist der einzige Prachtboulevard, der nach dem Krieg in Europa noch gebaut worden ist. Die Champs-Elysées der DDR, ihre Triumph-Allee, die man den verbrüderten wie auch den westlichen Ländern voller Stolz präsentierte. Und es ist eine erneute Ehre, dass die Unterzeichnenden, Sibylle und Ludmylle, von der Partei als beste Kuppel-Genossinnen dazu ausgewählt wurden, die Stadtführerinnen zu spielen!
Sibylle: Das ist nicht sehr witzig, Ludmylle, wir sind von der Partei nie mit irgendeinem Ehrentitel ausgezeichnet worden. Es sind die aus Westberlin, die danach fragen.
Ludmylle: Haben sie Berlin wieder geteilt? Man sollte sie besser auf dem Laufenden halten. Juten Tag, wir sind Sibylle und Ludmylle, die beiden Kuppeln vom Frankfurter Tor! Wir sind Ost, Ost, Ost, kapiert? Genauer betrachtet sind wir auf der Ostseite der Karl-Marx-Allee, die sich östlich des Arbeiterviertels Friedrichshain im Osten Berlins befindet. Wir können wie kaum jemand anders bezeugen, wie die Deutsche Demokratische Republik wirklich war. Wir sind sozusagen die DDR.
Sibylle: Übertreiben wir nicht. Die DDR existiert nicht mehr…
Ludmylle: Korrekt.
Sibylle: … lass mich doch meinen Gedanken zu Ende führen: Die DDR existiert nicht mehr als Staatsgebilde, aber sie lebt in unserer Erinnerung fort. Wir haben sie hautnah miterlebt. Und wir sollten an dieser Stelle auch daran erinnern, dass wir nicht irgendwelche Kuppeln sind, sondern dass unser Vater, der Architekt Hermann Henselmann, die beiden Zwillingskuppeln am Gendarmenmarkt von Carl Gontard vor Augen hatte, als er uns schuf. Ich weiß, Ludmylle, du hast dich nie zurückhalten können, deshalb bitte ich dich: Lass mich morgen erzählen, ich habe den genauen Verlauf der Ereignisse im Kopf und bin nicht auf Ärger mit West-Berlin aus.
Ludmylle: Also haben sie Berlin tatsächlich wieder geteilt?
Sibylle: Nein, sei artig. Höre, ob dir dieser Anfang gefällt:
Lieber Besucher:
Stell Dir Berlin am Ende des Krieges vor, eine physisch und moralisch in Trümmern liegende Stadt. Trotz der unvorstellbaren Verwüstung muss der Blick nach vorne gerichtet werden, wie es auch im Leben eines Einzelnen nach einer schrecklichen Tragödie irgendwie weitergehen muss. Stell Dir ein von Bomben getroffenes Volk vor, das von seiner neuen Regierung in Moskau dazu aufgefordert wird, die Schande des Nationalsozialismus abzustreifen und sich fortan von den Werten der Solidarität und des Friedens leiten zu lassen.
Ludmylle: Das ist ein bisschen wie „Imagine“ von John Lennon, das wird den Wessis gefallen.
Sibylle: Ja, lieber Besucher, stell Dir ein Leben vor, das nicht einfach so weitergehen, sondern von Null an neu beginnen muss.
Ludmylle (singt):
Und der Zukunft zugewandt,
lass uns dir zum Guten dienen,
Deutschland EINIG Vaterland
Sibylle: Ich bin dabei, die Geschichte einzuüben, die wir morgen den Journalisten erzählen, Ludmylle, das ist eine ernste Sache.
Ludmylle: Und ich bin dabei, unsere Hymne zu singen, das ist eine sehr ernste Sache.
Sibylle: Stell Dir vor, man beschloss just hier, an dieser Straße, die von Westen nach Osten in Richtung Frankfurt/Oder und dann weiter nach Moskau führt, die passende Kulisse für das Neu zu schaffende politische und gesellschaftliche Universum zu errichten. Diese Straße entspricht einem römischen Decumano: Die Römer errichteten ihre Städte entlang zweier Hauptachsen, dem Cardo, der von Norden nach Süden verlief, und dem Decumano, der ihn von Westen nach Osten kreuzte. Diese breite Ausfallstraße hieß Frankfurter Straße, eben weil sie nach Frankfurt an der Oder führte.
Man wählte einen bestimmten Streckensbschnitt, die 2,4 Kilometer vom Frankfurter Tor zum Alexanderplatz, und nannte sie am 21. Dezember 1949 nach dem Großen Bruder Stalin in Stalin Allee um, zu Ehren seines 70. Geburtstags. Die DDR wurde am 7. Oktober 1949 aus der Taufe gehoben und sogleich wurden alle Kräfte mobilisiert, um sie der Welt möglichst vorteilhaft zu präsentieren. Man brauchte ein Symbolder nationalen Einheit, etwas Verbindliches, das an diesem auserwählten Ort mit einer klaren architektonischen Botschaft vom Sozialismus kündete. Die Form sollte der Inhalt sein, damals mehr denn je. Zwischen Frankfurter Tor und Strausberger Platz wurde die Straße auf 90 Meter verbreitert. Grandios sollten die Paraden sein, Platz bieten für die Volksmassen, für deren Vertreter auf den Podien, sowie die defilierenden Soldaten nebst rollendem Waffenarsenal. Spektakulär waren die Aufmärsche am 1. Mai, dem Tag der Arbeit – rote Nelken im Knopfloch und ein Meer roter Fahnen – sowie am 7. Oktober, dem Jahrestag der DDR-Gründung. Der Wiederaufbau der Laubenganghäuser war in vollem Gange. Die Architekten Ludmylle Herzenstein und Hans Scharoun hatten an den Hausnummern 102, 103, 104, 126, 127 und 128 bereits neue Gebäude errichtet, als aus Moskau der Befehl zu einer stilistischen Kehrtwende eintraf. Gefordert wurde ein Bruch mit der modernen Architektur: zu nationalistisch, zu bürgerlich, zu individualistisch, zu wenig sozialistisch. Diese Häuser, sagte man abfällig, sehen aus wie amerikanische Eierschachteln. Das passt nicht zu uns! Es wurde angeordnet, die im Wiederaufbau befindlichen historischen Gebäude mit Plastikplanen zu verhüllen und die bereits fertig gestellten Gebäude hinter neu anzupflanzenden Bäumen zu verbergen. Dann wurde ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben, um Ideen für das neuartige, grandiose sozialistische Bauprojekt zu sammeln.
Ludmylle: Als Christo und Jean Claude vom 27. Juni bis zum 7. Juli 1995 den Reichstag verhüllten, erfanden sie also nichts Neues. Die Idee, Gebäude zu verpacken, gab es schon in unserer ruhmreichen Republik, wie so viele andere Ideen auch.
Sibylle: Bring mich nicht aus dem Konzept. Wir sprechen über unsere damalige Geschichte. Gefallen fand das große Gebäude, das unser Vater 1952 auf der Weberwiese fertigstellte – seiner Höhe und der eleganten cremefarbenen Majolika-Fliesen wegen „Weißer Schwan“ genannt.
Es erinnerte ein wenig an den Schinkelschen Klassizismus, aber auch an unsere Türme vom Frankfurter Tor. So kam aus Moskau die Order: Nur weiter so, schnell, schnell! Dieser Stil wurde Stalin-Barock oder auch Zuckerbäckerstil genannt, ein imposanter Neoklassizismus, mit Majolika- und Stuckelementen verziert.
Sechs Architektenkollektive teilten sich den Auftrag zum Bau der Wohnhäuser. In Windeseile sollten dreitausend komfortable Vorzeigewohnungen für das Volk bereitgestellt werden. Gewinner des Architekturwettbewerbs war Egon Hartmann mit seinem Entwurf für den Häuserblock B. Platz 2 belegte Richard Paulick, der mit dem Bau des ob seiner Harmonie und Symmetrie allseits bewunderten Häuserblocks C betraut wurde. Der Komplex befindet sich zwischen der Straße der Pariser Kommune und der Koppenstraße und beherbergt die bekannte Karl-Marx-Buchhandlung – damals ein blühendes Kultur-Zentrum, dessen Namenszug noch heute über dem Eingang prangt. Jetzt befindet sich dort das bekannte Café Sibylle, deren rührige Betreiber in den Räumen der ehemaligen Milchtrinkhalle in der Hausnummer 72 lobenswerterweise die Erinnerung an unsere guten alten Zeiten wach halten. Unter Richard Paulick wurde auch die Deutsche Sporthalle im Rekordtempo von nur 148 Tagen hochgezogen. In der monumentalen, modernen Arena wurden 1951 die 3. Weltjugend und Studenten Spiele veranstaltet.
Ludmylle: Ein wirklicher Rekord! Ja, was tat man damals nicht alles für den Sport! Unserer DDR liebte den Sport!
Sibylle: Platz 3 Hanns Hopp.
Ludmylle: Ein wahrhaft sportlicher Name! Platz 3 in was?
Sibylle: Im Architekturwettbewerb. Ihm verdanken wir die Gebäudekomplexe G und E, direkt in unserer Nähe.
Ludmylle: Eigentlich ging es doch um Sport.
Sibylle: Nein, es geht um die Sporthalle, erbaut von Richard Paulick. Sie befand sich zwischen Häuserblock B und C und bot 4000 Zuschauern Platz, erinnerst du dich noch, Ludmylle?
Ludmylle: Natürlich erinnere ich mich!
Sibylle: Auf Platz 4 kam Karl Souradny, Schöpfer des Gebäudekomplexes F, direkt neben dem Frankfurter Tor.
Ludmylle: Aber sprachen wir nicht gerade über die Deutsche Sporthalle?
Sibylle: Ich habe doch alles gesagt! Die Sporthalle wurde 1951 erbaut. Oder soll ich vielleicht noch hinzufügen, dass gegenüber, auf der anderen Seite der Allee, die Statue Stalins stand?
Ludmylle: Bekanntlich ein Sportsmann: Von dort wachte er darüber, dass bei den sportlichen Wettbewerben alles nach Plan lief … Nein, du sollst sagen, dass die Sporthalle nicht mehr dort steht, denn sonst machen sich alle auf die Suche nach ihr. Ich höre sie schon, die Pauschaltouristen: Excuse me bitte, where ist die Sporthalle?
Sibylle: Fünfter, but not least, Kurt W. Leucht, nach dessen Entwurf Häuserblock D erbaut wurde.
Ludmylle: Du bist besessen, Sibylle, du und deine Blocks … Wir sprechen über die Deutsche Sporthalle!
Sibylle: Ich soll besessen sein? Sag du mir, was ich noch über deine Sporthalle erzählen soll! Ich weiß, worauf du es absiehst! Es macht dir Spaß, meine Erzählung zu unterbrechen, mich aus dem Rhythmus zu bringen mit deinen zotigen Einwänden, wo du von Hölzchen auf Stöckchen kommst. Bis jetzt hat es mir nichts ausgemacht, in Ordnung. Aber jetzt drängt die Zeit und meine Geduld ist erschöpft! Bis morgen müssen wir einen verständlichen, zusammenhängenden Vortrag über unsere Republik vorbereitet haben! Zu-sam-men-hän-gend! Verstehst du? Jetzt rück ́also heraus mit deiner Geschichte über steroide Anabolika. Dann haben wir diesen faulen Zahn endlich gezogen und brauchen nicht weiter darüber zu sprechen. Das ist abgedroschen. Nervtötend und abgedroschen.
Ludmylle: Und du bist gestresst, liebe Sibylle, weil du Übereinstimmung suchst, wo es keine Übereinstimmung gibt. Auch wenn du deine Häuserblocks noch so geflissentlich auflistest, du wirst dabei immer wieder auf unliebsame Überraschungen stoßen! Aber wie auch immer,ich hatte überhaupt nicht vor, über die blauen Pillen reden. Das Turinabol kam in den 70er Jahren auf und wurde bis in die 80er Jahre angewendet, die Sporthalle wurde jedoch schon 1971 wegen Einsturzgefahr abgerissen. Nur das wollte ich sagen. Vielleicht hätte ich noch hinzugefügt, dass die Stalin-Statue das zum Glück nicht mehr mitansehen musste, da sie 10 Jahre zuvor an eine andere Stelle versetzt worden war … Man muss sich doch wegen einer Turnhalle nicht so aufregen! Komm, erzähle weiter über die Häuserblocks.
Sibylle: Ich bin fertig.
Ludmylle: Du hast Block A vergessen.
Sibylle: Ach ja. Für den war unser Vater außerhalb des Wettbewerbs, sozusagen honoris causa verantwortlich. Ihm vertraute man die Gestaltung des Strausberger Platzes, des Häuserkomplexes A und des Frankfurter Tors an – das Alpha und das Omega des monumentalen und repräsentativsten Teils der Stalin Allee. Keine Generation in der DDR, die nicht am Strausberger Platz das Haus des Kindes besucht hätte, das dort bis 1990 betrieben wurde. Dort gab es (fast) alles, was Kinder benötigen: Kleidung, Spielzeug, Schulsachen, zudem ein Puppentheater und eine Kinder-Bar hoch oben in der 13. Etage, wo die Erwachsenen das Panorama über unser schönes Berlin genießen durften – allerdings nur in Begleitung von Kindern. Beim Bau sämtlicher Gebäude wurde die Bevölkerung um Mithilfe gebeten, darunter viele Frauen. Sie waren im Krieg nicht wie die meisten ihrer Männer gefallen, verstümmelt worden oder in Gefangenschaft geraten. Es meldeten sich 10.000 Freiwillige.
Die Arbeit wurde auf etwa 30 verschiedene Gewerke verteilt. Unter den Maurern gab es beispielsweise Zementmischer, Gerüstbauer, Fundamentenleger, Materialtransporteure diverser Art, daneben die Abteilung Straßenbau, … und sobald der Rohbau stand, kamen die Maler, die Klempner, die Fliesenleger, die Heizungsbauer, die Elektriker, unzählige Arbeiter. Als Mitwirkende am Bau hegten sie die Hoffnung, bei der anschließenden Verlosung eine Wohnung zu gewinnen – ja, es gab eine richtige Wohnungsverlosung -, oder auf eine Zuteilung wegen besonderer Verdienste bei der Arbeit. Jede Familie erhielt ein Heft mit dem Titel „Ehrenbuch der Familie“ unter dem Motto: Aus Liebe zu unserem Vaterland unterstützen wir unsere Hauptstadt Berlin, in dem die Arbeitseinsätze abgestempelt wurden. Für je 300 geleistete Arbeitsstunden bekam man ein Los zugewiesen, und die Anzahl der Gewinnlose war groß.
Eine breit angelegte propagandistische Kampagne ermunterte die Arbeiter mit Slogans wie: „Träume nicht von einem schönen Berlin, baue es! Die ersten Gewinner gibt es schon, zu den nächsten gehörst auch du! Du kannst es schaffen, Bärenwort“. Auf den Plakaten war der Berliner Bär abgebildet, beladen mit Backsteinen. Und dann: „Also los!“ Die Wohnungen boten jeden Komfort: ein eigenes Bad, Einbauküche, Zentralheizung, manche waren sogar mit Telefon ausgestattet und…
Ludmylle: …und – der Gipfel des Wahnsinns – mit Fahrstuhl!!! Unerklärlich, der Hype, der damals um den Fahrstuhl gemacht wurde!
Sibylle: Und angesichts der kalten Winter galt auch die Zentralheizung als echter Luxus. Ein eigenes Bad zu haben, war eine absolute Neuheit. Schluss mit gemeinsamen Bädern auf halber Treppe! Am Gründungsmythos des Sozialismus arbeiteten 1952 in Berlin alle fleißig mit.
Ludmylle (singt):
Lasst uns pflügen, lasst uns bauen,
Lernt und schafft wie nie zuvor,
Und der eignen Kraft vertrauend,
Steigt ein frei Geschlecht empor
Sibylle: Ich versuche, unsere Geschichte zu erzählen, und du unterbrichst mich pausenlos.
Ludmylle: Ich unterbreche dich nicht. Ich unterstütze deine Erzählung, indem ich sie mit unserer Nationalhymne begleite.
Sibylle: Machen wir es so, Ludmylle: Wenn ich morgen eine musikalische Untermalung benötigen sollte, gebe ich dir bescheid.
Ludmylle: Unter den Gründungsmythen hast du den Staubsauger vergessen!
Sibylle: Habe ich vergessen zu erwähnen, dass es auf den Baustellen sehr staubig war?
Ludmylle: Und wie! All die armen Frau, die zwischen den Ruinen nach wieder verwertbaren Backsteinen suchten und diese dann gründlich säubern mussten, bevor sie sie abgaben. Nein, mit „Staubsauger“ meinte ich tatsächlich den echten Staubsauger, das Elektrohaushaltsgerät, heutzutage Standard, das damals wie reinste Sciencefiction anmutete, und das zur Ausstattung der neuen Wohnungen gehörte. „Jeder Komfort“, so die Losung, „den Arbeitern“. Als Gegenleistung verlangte „Spitzbart“ vom Volke Treue zur Partei.
Sibylle: Wenn du „Spitzbart“ sagst, versteht morgen niemand, von wem du sprichst, lass mich erzählen.
Ludmylle: Walter Ulbricht, zur damaligen Zeit Generalsekretär der SED, der einzigen sozialistischen Partei Deutschlands, und später Vorsitzender des Staatsrats. Wer kennt „Spitzbart“ nicht? Es gibt ihn auch bei Madame Tussaud! Die Pauschaltouristen können sich sogar mit ihm zusammen fotografieren lassen.
Sibylle: Am 21. Dezember 1952 wurden im Rahmen eines Festaktes in der Staatsoper Wohnungsschlüssel an 667Arbeiter, 322 Angestellte und 149 leitende Funktionäre übergeben, von denen viele sich mit besonderen Verdienstes hervorgetan hatten. Bei einer begeisternden Einweihungszeremonie am 7. Januar 1953 nahmen die ersten 70 Mieter feierlich Besitz von den neuen Appartements. Ein großes Jahr schien angebrochen, bis plötzlich am 5. März „das Herz des bedeutendsten Mannes unserer Epoche, des Genossen Josif Wissarionovic Stalin“, zu schlagen aufhörte. So titelte Das Neue Deutschland in seiner Trauerausgabe. Das war ein harter Schlag für uns alle. Wir fühlten uns erneut führungslos. Ein endloser Trauerzug schritt unsere Allee entlang, eine Unmenge von Blumensträußen wurde zu Füßen der Stalin-Statue abgelegt. Die SED aber verließ uns nicht. Sie hatte sich bereits 1952 an ihrem 2. Parteitag zusammengefunden, um wichtige Entscheidungen über das weitere Vorgehen beim Aufbau des Sozialismus zu treffen.
Beschlossen wurde, die Schwerindustrie zu Lasten der Konsumgüterproduktion zu stärken. Letztere wurde gedrosselt, was zu einem drastischen Preisanstieg führte. Kostete eine Tafel Schokolade damals im westen 50 Pfennig, so musste man im Osten 8 Mark dafür berappen. Es gab keinen Marschallplan für die DDR. Anfang Juni wurde eine Verlängerung der Arbeitszeit um 10 % angeordnet, die am 30. Juni in Kraft trat und mit einer Senkung der Arbeitslöhne einherging. Zunehmend machte sich Unmut auf den Baustellen der Stalin Allee breit, das Arbeitsklima litt darunter. Ein Protestschreiben wurde aufgesetzt, fand aber kein Gehör. Also traten am 16. Juni 145.000 Arbeiter der Stalin Allee in den Streik, der am 17. Juni seinen Höhepunkt erreichte. Die Protestierenden formierten sich auf dem Strausberger Platz, von wo aus sie bis zum Palast der Ministerien, an der Ecke Leipzigerstraße / Wilhelmsstraße marschierten. Zu Zeiten des Nationalsozialismus beherbergte das Gebäude das Luftfahrtministerium, während dort heute das Finanzministerium sitzt.
Ludmylle: Eine ganz schön lange Strecke, fast bis zum Potsdamer Platz!
Sibylle: Je weiter der Protestzug voranschritt, desto größer wurde er. Die Arbeiter der Baustelle am Krankenhaus Friedrichshain schlossen sich an, die Maschinenbauer, die Elektriker und viele andere.
Ludmylle (singt):
Alte Not gilt es zu zwingen
Und wir zwingen sie vereint
Sibylle: Unter strömendem Regen marschierten sie zu Hunderttausenden.
Ludmylle: Wie ein mächtiger Strom!
Sibylle: Zu Beginn stand die Forderung nach höheren Löhnen – am Ende wurden freie Wahlen und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten verlangt. Der Protest schwappte auf andere Städte in der DDR über und fand auch Solidarität in West Berlin. Der RIAS, der Radiosender der Amerikaner in West Berlin, berichtete aus Schöneberg über den Fortgang der Ereignisse und trug so zur Unterstützung und zur Stärkung der Proteste bei.
Ludmylle (singt):
Wenn wir brüderlich uns einen,
Schlagen wir des Volkes Feind
Sibylle: Das Regime verhielt sich anfänglich zurückhaltend. Als die Revolte in vollem Gange war, rief sie die sowjetischen Panzer, um sie niederzuschlagen.
Ludmylle: Eine miserable Idee!
Sibylle: Die 600 Panzerfahrzeuge und 20.000 sowjetischen Soldaten, die den 15.000 deutschen Polizeiagenten zu Hilfe kamen, stachelten die Menge noch mehr auf.
Ludmylle (singt):
Glück und Frieden sei beschieden Deutschland unserm Vaterland
Alle Welt sehnt sich nach Frieden, Reicht den Völkern eure Hand
Sibylle: Der Protest wurde immer politischer. Die Ankündigung, dass die Verlängerung der Arbeitszeiten zurückgenommen werden sollten, zeigte keine Wirkung. Die Demonstranten hatten jedes Vertrauen in die Regierung verloren. 55 von ihnen wurden bei direkten Zusammenstößen getötet, ebenso viele scheinen im Umfeld ihr Leben verloren zu haben. Bis heute ist die genaue Anzahl der Opfer unbekannt. Angeblich wurden 7.500 Menschen verhaftet, 1.200 vor Gericht gestellt und vier von ihnen sogar hingerichtet.
Ludmylle (singt):
Lasst das Licht des Friedens scheinen,
Dass nie eine Mutter mehr
Ihren Sohn beweint
Ihren Sohn beweint
Sibylle: Am 17. Juni wird seither des ersten Volksaufstandes der DDR gedacht, der auch als erster Schritt hin zur Wiedervereinigung gilt. Die Straße, die der Länge nach durch den Tiergarten führt, heißt in Erinnerung daran Straße des 17. Juni. Der Tod Stalins, die Revolte des 17. Junis und der Neue Kurs von Nikita Chruschtschow bedeuteten das Ende des ebenso großen wie kurzen architektonischen Traums der Stalinallee. Die ganze Herrlichkeit führte nun ein für allemal nicht über den Strausberger Platz hinaus. Von dort bis zum Alexanderplatz wurde die Stalin Allee in aller Eile und ohne jedwede Ansprüche in der bekannten Plattenbauweise fertig gestellt.
Ludmylle: Das abrupte Ende eines Traums: sogno interruptus.
Sibylle: Du sagst es. Heute weist die Karl-Marx-Allee zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz eine Breite von 180 Metern auf, das Doppelte des bereits großzügig bemessenen Abschnitts zwischen Frankfurter Tor und Strausberger Platz. Man hat den Eindruck auf einem Exerzierplatz zu stehen, der in den ebenso breit angelegten Alexanderplatz ausläuft. Eine ungeheuere Weite. Es gibt dort das Kino International und das kolossale Hotel Berolina, hinter dem das rote Rathaus hervorlugt.
Ludmylle: Und es gibt noch ein paar herumirrende verlorene Seelen. Wenn der Sibirische Wind bläst, herrscht hier eisige Kälte. Die Armseligen können nicht einmal mehr im Café Moskau Unterschlupf finden, da es nur noch zu besondere Anlässen geöffnet hat und der Sibirische Wind nicht dazu zählt. In den 60er Jahren, ja, da war was los im Café Moskau!
Sibylle: Zwischen 1961 und 1962 wurde hier in unserer Nähe auch das Kosmos Kino gebaut, das größte und modernste Kino der DDR, weißt du noch?
Ludmylle: Und ob ich das noch weiß! 1001 Zuschauer fanden dort Platz! Das Gebäude mit der Hausnummer 133 steht noch, es ist aber kein Kino mehr, sondern ein Tagungsort für Konferenzen.
Sibylle: Und dann die Nacht vom 13. auf den 14. November, erinnerst du dich noch? Stalin war schon seit 8 Jahren tot, wir befanden uns mitten im so genannten Entstalinisierungprozess. In der Sowjetunion war aufgedeckt worden, dass während Stalins Schreckensherrschaft Millionen von Russen in den Gulags ums Leben gekommen waren. Wer in dieser Nacht noch in der Stalin Allee eingeschlafen war, der wachte am Morgen danach in der Karl-Marx-Allee wieder auf.
Ludmylle: Wie könnte ich das vergessen! Helter Skelter! In dieser Nacht demontierten sie auch den 4,60 Meter hohen und 2,5 Tonnen schweren bronzenen Stalin, der zwischen Andreasstraße und Koppenstraße gegenüber der Sporthalle, über die du dich so aufgeregt hast, gestanden hatte. Die Bronze fand später in den Skulpturen im Tierpark wieder Benutzung.
Sibylle: Nichts wird erschaffen, nichts wird zerstört, alles ist im Wandel, und nicht über die Sporthalle rege ich mich auf, sondern über deine Art zu erzählen!
Ludmylle: Ein Ohr und ein Stück Bart der Stalin-Statue wurden jedoch gerettet, einem furchtlosen Arbeiter, Gerard Wolf, gelang es, sie zu entwenden. Man kann sie heute im Cafè Sibylle besichtigen. Die Pauschaltouristen könnte es interessieren, dass man dort für 10 € eine Kopie des Stalinohrs als Souvenir erwerben kann. Ein prima Mitbringsel aus Berlin für den Chef!
Sibylle: Pass nur auf, wenn du nicht aufhörst, sie als Pauschaltouristen zu bezeichnen, wird dir morgen bestimmt ein Fauxpas unterlaufen, die Besucher werden beleidigt sein und uns nicht mehr besuchen kommen!
Ludmylle: Die können mir mal den Buckel runter…, ehm, aber nein, ich mag die Pauschaltouristen doch. Ich nenne sie ganz liebevoll so. Denk mal daran, wie sympathisch sie sind, wenn sie unsere Trabis mieten und fröhlich hupend im Konvoi fahren! Ja, das ist ihre sympathische Art, sich zu vergnügen. In diesen Plastekisten meinen sie ein Stück Geschichte zu erleben, sie begeistern sich an unseren Zwei-Takt-Motoren wie Kinder am Karusselfahren. Was willst du machen? Man kann sie ja nicht auf sympathische Weise versohlen, man muss sie lieben, wie sie sind.
Sibylle: Weißt du, Ludmylle, was uns gefehlt hat?
Ludmylle: Na, auf jeden Fall eine ernstzunehmende Wirtschaft, eine ehrliche Politikerklasse, die lebenswichtige Freiheit,…
Sibylle: …und eine gewisse Unbekümmertheit. Uns war sie nicht gestattet. Wir kamen mit kollektiven Zielen, Programmen, Plänen und Diskussionen zur Welt. Seit unserer Kindheit hat man uns pausenlos Verantwortungen und Frustrationen auferlegt. Erinnerst du dich an daskollektive Aufs-Töpfchen-Gehen? Schon im Kindergarten musstest du warten, bis alle anderen auch fertig waren, bevor du aufstehen durftest. Die Unterdrückung des Individuums, das immer nur als kleiner Teil eines großen zusammengehörigen Ganzen gesehen wurde. Nie konnte man „ich“ sagen, man hatte sich immer in der 1. Person Plural auszudrücken, oder zumindest in der 3. Person Singular, wenn die Partei, der Staat, Unser Parteivorsitzender gemeint waren.
Ludmylle: Für wahr, all dies belastet dich, erdrückt dich.
Sibylle: Schau, unsere Allee war stets ein Spiegel unserer Geschichte. Als die Wirtschaft in den 70er Jahren zunächst stagnierte, um dann in den 80er Jahren auf ruinöse Talfahrt zu gehen, lösten sich auch die schönen Majolika-Fliesen von den monumentalen Bauten. Je mehr der Import von Konsumgütern abnahm, desto trauriger sahen die Auslagen in unseren Geschäften aus. Als die Industrie dahin siechte und an der selbst verursachten Luftverschmutzung und dem Mangel an Investitionen zu ersticken drohte, trug es den Ruß bis zu uns. Sogar das Politbüro war nach Wandlitz, aufs Land übergesiedelt und lies es sich dort in einer schönen Residenz an nichts fehlen. Die Karl-Marx-Allee verkümmerte immer mehr zur bloßen Kulisse für die Militärparaden, die immer sinnloser wurden. Wir fingen an, die Allee abfällig „Stalins Badezimmer“ zu nennen, wegen der Fliesen. Und je mehr sich der Zusammenhalt zwischen Regierenden und Regierten löste, desto maßloser gerieten die großen Volksversammlungenauf unserer Allee. Unser wunderbares Duosan, der universelle Alleskleber, wurde verzweifelt eingesetzt, um die Fliesen und die Politik wieder zu befestigen, aber die Kritik und die Risse nahmen zu. Duosan Allee nannte man uns auch, wie traurig! Die einzige verzweifelte Reserve an Konsens und Illusionen war die Jugend, die Hoffnung des Regimes.
Ludmylle (singt) :
Deutsche Jugend, bestes Streben
Unseres Volks in dir vereint
Sibylle: Nein doch, Ludmylle, von 1972 an wurde unsere Hymne nicht mehr gesungen. Verboten! Als Reaktion auf die Äußerung Willy Brandts, der sagte: „Wie könnt ihr die Wiedervereinigung nicht wollen? Ihr besingt sie doch in Eurer Hymne: Deutschland einig Vaterland!“ Von da an war Schluss, der Chor blieb stumm, gespielt wurde nur noch die Instrumentalfassung.
Ludmylle (singt):
M-m M-m, m-m M-m
M-m M m m m-m
Sibylle: Ganz genau so.
Ludmylle: Zum Ausgleich sang die FDJ – blaues Hemd, rotes Halstuch – mit großer Begeisterung!
Sibylle: (singt):
Lobt das lernen, wehrt das Wissen
preist des Volkes Schöpferkraft
Uns’re Zeit greift nach
den Sternen Ehr‘ und Ruhm der Wissenschaft
Sibylle: und Ludmylle (singen):
Vorwärts Freie Deutsche Jugend der Partei unser Vertrau’n an der Seite der
Genossen woll’n wir heut‘ das Morgen bau’n woll’n wir heut‘ das Morgen bau’n
Lernt im Geiste Thaelmanns Kämpfen für die junge Republik. Uns’re Zeit braucht Herz und Hände und der Frieden braucht den Sieg
Vorwärts Freie Deutsche Jugend der Partei unser Vertrau’n an der Seite der Genossen woll’n wir heut‘ das Morgen bau’n woll’n wir heut‘ das Morgen bau’n
Seit bereit und kampfentschlossen wenn Gefahren uns bedroh’n. Uns’re Zeit will Glück und Frieden Freundschaft zur Sowjetunion.
Vorwärts Freie Deutsche Jugend der Partei unser Vertrau’n an der Seite der Genossen woll’n wir heut‘ das Leben bau’n woll’n wir heut‘ das Leben bau’n.
Sibylle:: Es war völlig wirklichkeitsfern, entsetzlich, fürchterlich, das ist klar – aber es war auch wunderbar!
Ludmylle: Weil wir jung waren. Die Geschichte besteht immer auch aus vielen individuellen Geschichten. Manchmal ziehen monströse Regierungen über unsere Köpfe hinweg, im Herzen aber behalten wir wunderschöne Erinnerungen.
Sibylle: Warte, warte! Wie ging das noch: (singt):
Bau auf! Bau auf! Bau auf!
Ludmylle (singt mit):
Freie Deutsche Jugend, bau auf!
Für eine bess ́re Zukunft richten wir die Heimat auf!
Deutsche Jugend, steh deinen Mann
Sibylle: Was hätten wir da aufbauen sollen, da alles bereits verfallen war?
Ludmylle: Bis zum Schluss haben wir hier auf der Allee gefeiert! 1986 den 40. Jahrestag der FDJ! 1987 sagte der Parteivorsitzende Honecker noch: „Alles in allem ist das Schiff seetüchtig und hält geraden Kurs auf das Ziel!“ Ja, klar. Wie hätte es anders sein können? Und dann gab es den 40. Jahrestag der DDR! Ausgerechnet 1989! Kurz darauf trat der Parteivorsitzende zurück.
Sibylle: Man muss sich das klar machen: Während wir Vorwärts Freie Deutsche Jugend sangen, hörte, sang und spielte die Jugend in Westberlin und im ganz normalen Rest der Welt ganz normale Musik für Jugendliche.
Ludmylle: Von einer bestimmten Warte aus betrachtet blieb uns vieles vorenthalten.
Sibylle: Auf der anderen Seite aber haben wir, da uns praktisch alles Schöne verboten war, um jede noch so winzige Freiheit gekämpft, und diese ganze Mühe ist von heute aus betrachtet reine Poesie.
Ludmylle: Willst du einen Punk vom Savigny Platz mit einem Punk vom Frankfurter Tor vergleichen? Bei aller Bescheidenheit, reinste Poesie!
Sibylle: Und das gemeinsame Leiden und die gemeinsamen Träume, den Mut den man aufzubringen hatte, um zu vertrauen, da, wo auf den falschen Freund zu setzen, einen in ernsthafte Schwierigkeiten bringen konnte – hat uns all dies nicht auf unbeschreiblich tiefe Weise vereint?
Ludmylle: Und welche Freude, wenn ein Sonnenstrahl durch das dichte Dach der Bäume drang, und der Mangel sich plötzlich in Erfüllung verwandelte?
Sibylle: Nicht immer und nicht jedem ist es gelungen, all diese Strapazen und Schikanen unbeschadet zu überstehen, aber wer es von uns geschafft hat, ist für immer gestärkt daraus hervorgegangen.
Ludmylle: Ein Darwinismus der Seele.
Sibylle: Eine unbeabsichtigte Erweiterung unseres Bewusstseins. Ein sozialistischer Buddhismus.
Ludmylle: Es ist unser tief im Innern verborgenes Geheimnis, das man nicht erklären kann.
Sibylle: Und wir hüten es wie einen kostbaren Schatz. So kostbar und unfassbar wie die Liebe. Unbeschreiblich. Unser Lebensinstinkt.
Ludmylle: Wir hatten gute Schulen, wir waren es gewohnt, uns zu engagieren, nach der Schule zu arbeiten, wussten uns von klein auf selbst zu helfen, da unsere Mütter bei der Arbeit waren. Wir hatten zweifellos Sinn für die Gemeinschaft und waren bereit, dafür Opfer zu bringen. Vielleicht zu viele, wenn wir an die Kindheit von heute denken: lauter Pippi Langstrumpfs mit Lernschwächen. Keine Regeln, keine Noten, stattdessen Gummibärchen und Spiele.
Sibylle: Jetzt, wo wir wiedervereinigt sind, sollten wir verhindern, über die Frage nach den richtigen Erziehungsmethoden in Streit zu geraten. Dazu müssen wir einen dritten Weg beschreiten und eine unserer großen Wahrheiten auf das System Berlin übertragen.
Ludmylle: Wie redest du?
Sibylle: Ich übe mich in politischer Rhetorik. Morgen werden sie uns mit Sicherheit zur Jugend befragen. Das machen sie immer, wenn sie nicht weiter wissen. Und wir bereiten schon mal die Antworten vor, wie es Spitzbart zu tun pflegte. Wählen wir ein Modell, zum Beispiel Hamb…
Ludmylle: Provinziell!
Sibylle: Du hast mich nicht einmal zu Ende reden lassen! Dann nimm Frank…
Ludmylle: Provinziell!
Sibylle: Dann eben das Modell Bayern!
Ludmylle: Mein Gott, wie lästig diese Bayern sind, immer mit erhobenem Arm!
Sibylle: Nazis?
Ludmylle: Nein, sie wollen immer Klassenbester sein. Sie sind weniger sozialistisch als die Schweizer. Warum gründen sie nicht eine helvetisch-bayuwarische Konföderation, dann wären wir sie endlich los!
Sibylle: Bist du verrückt geworden, Ludmylle? Wir sind ein Volk!
Ludmylle: Ja, aber sie sind es, die immer die Arme heben! Alle arbeiten zusammen! Haben sie in der Schule nie Gruppenarbeit gehabt?
Sibylle: Ludmylle? Pssst … Mmmmm … Psst … (unverständlich)
Ludmylle: Hast du einen Schlaganfall? Du gestikulierst wie eine Neapolitanerin, was ist mit dir?
Sibylle: Mmmmmm… Psssst…. (unverständlich)
Ludmylle: Darf ich nicht sprechen? Ach! Du hast Angst, dass hier irgendwo noch eine Wanze versteckt ist? Siehst du, was 40 Jahre Diktatur aus einem machen? Ein Volk von Paranoikern! Nach dem Mauerfall sind sie gekommen, um uns zu entschädigen, weißt du nicht mehr? Die Wessis haben die Wanzen abmontiert! Und außerdem, wer überhaupt sollte uns abhören?
Sibylle: Wschmschn … (unverständlich)
Ludmylle: Die Waschmaschine? Die Waschmaschine hört uns ab? Was redest du?
Sibylle: Mmmmmm … Fluss …pssst … (unverständlich)
Ludmylle: Die Waschmaschine auf dem Fluss?
Sibylle: Jmss … Bondssst … (unverständlich)
Ludmylle: James Bond in der Waschmaschine auf dem Fluss? Ach, das Kanzleramt! Der BND hört uns ab?
Sibylle:: Pssst …
Ludmylle: Du hast zu viele Filme über die DDR gesehen, Sibylle! Hallo, ihr vom Bundesnachrichtendienst! Wenn Ihr Lauscher uns morgen bestrafen wollt, kommt zusammen mit den Journalisten und zieht Euch Knickerbocker an, dicke Wollstrümpfe, Bergschuhe, ein kariertes Hemd, Hosenträger und einen Alpenhut. Wenn wir Euch von weitem kommen sehen, wissen wir, dass Ihr uns für 5 Jahre ins bayerische Schulsystem verbannen wollt. Wir werden uns dann augenblicklich in aller Würde in Luft auflösen. Falls Ihr aber vorhaben solltet, uns als Weltkulturerbe zu bewahren, schwenkt bitte gut sichtbar eine Flasche des ungarischen Magenbitters Unicum (zu finden in der ungarischen Weinhandlung in der Hausnummer 112). Dann werden wir gemeinsam feiern!
Sibylle: Warum konnte mein Vater sich damals nicht nur mit mir begnügen?
Ludmylle: Weil – abgesehen vom Magenbitter Unicum, der wirklich einzigartig ist – Konfrontation immer Leben bedeutet! Es ist die Demokratie, Schatz! Das solltest du wissen!
Sibylle: Ich rufe im Café Sibylle an und bestelle zwei Bier und zwei Linsensuppen, einverstanden? Und dazu die Modelle der Häuserblocks , sie werden uns morgen von Nutzen sein.
Ludmylle: Einverstanden mit der Suppe und dem Bier, aber was die Modelle der Gebäude angeht…
Sibylle: …doch, A, B, C, D, E, F, und G, so werden sie sich die Reihenfolge besser merken.
Ludmylle: Die Wessis werden das Einmaleins nicht kennen, aber doch wohl das Alphabet! Bis zum G mit Sicherheit!
Sibylle: Ja, aber der Häuserblock A liegt am Strausberger Platz, sie aber starten von uns aus, von Block G. Also müssen sie sich die umgekehrte Reihenfolge merken: G, F, E, D, C, B, A. Das können sie nicht schaffen.
Ludmylle: Richtig, sie sind nicht daran gewöhnt, rückwärts zu gehen. Höre, wie schnell ich bin! GFEDCBA!
Sibylle: Ja,ja, so schnell können das selbst Kreuzberger! Schneller!
Ludmylle: GFEDCBA!
Sibylle: Ehrenurkunde für die Arbeiter-Genossin Ludmylle für eine überaus gelungene retrograde Arbeit!
Ludmylle: Danke.
Sibylle: Na komm, wie schaffen wir es, sie dazu zu bringen, 2,4 km zu laufen. Sie sind es nicht gewohnt!
Ludmylle: Uchis‘ marshiruya!
Sibylle: Sie verstehen kein Russisch!
Ludmylle: Learning by marching! Wir stellen sie an die Südseite, die ist abwechslungsreicher. Und dann geben wir ihnen kleine Aufgaben, wie damals den FDJ Pionieren, und lassen sie singen!
Sibylle: Fröhlich sein und singen?
Ludmylle: Jawohl! (singt):
https://www.golyr.de/volkslieder-ddr/songtext-pioniere-voran-451425.html
Hell scheint die Sonne und leicht ist unser Schritt
Froh ist der Schlag unserer Herzen;
Zieht doch die Freude an unserer Seite mit,
Singen und Lachen und Scherzen
Ludmylle: Wenn sie vier Mal hintereinander die erste Strophe singen und dabei einen guten Schritt zulegen, erreichen sie Häuserblock G ohne es zu merken. Am Häuserblock F lassen wir sie dann vier Mal..
Sibylle: …warte! Lass mich raten! (singt):
Pioniere, voran lasst uns vorwärts gehen!
Pioniere, stimmt an, lasst die Fahnen wehn!
Unsre Straße, sie führt in das Morgenlicht hinein;
Wir sind stolz Pioniere zu sein!
Sibylle: Aber was, wenn sie sich weigern? Es sind schließlich Erwachsene, wenn auch Wessis.
Ludmylle: Sich weigern? Das fehlte noch! Es ist doch ein historischer Umzug! Sie sollen sich vorstellen, unter den Augen unserer Parteivorsitzenden zu defilieren: Wilhelm Pieck! Walter Ulbricht! Willi Stoph! Erich Honecker! Egon Krenz! Nur so erschließt sich ihnen der Sinn unserer grandiosen Paraden. Sieh mal, sie sind schon so gut wie angekommen am Häuserblock E, und schon fühlen sie sich als Teil der Allee. An der Nummer 108 hat der Imbiss von 7 – 16 Uhr, montags bis freitags geöffnet. Wir erklären ihnen, dass es der einzige weit und breit ist, und wenn sie uns blöd ansehen, wiederholen wir es. Sie werden über die Philosophie der Öffnungszeiten sinnieren, im besten aller Fälle werden sie dann etwas essen. Bevor sie uns beschuldigen können, sie vergiftet zu haben, schicken wir sie einen paar Meter zurück zur Hausnummer 112, damit sie einen ungarischen Verdauungsschnaps zu sich nehmen können.
Sibylle: Ein paar Gläschen und dann geht’s weiter! (singt):
Siehst du die Lerche dort unterm Himmelszelt?
Fliege mit ihr in die Fernen;
Fliege mit ihr über Berg und Tal und Feld,
Hoch zu dem Mond und den Sternen.
Ludmylle: Fantastisch! Siehst du, wie glücklich sie sind? Und sie sind schon fast am Häuserblock D!
Bevor sie dort ankommen, sollten sie hinüber auf die andere Straßenseite schauen, wo auf der Weberwiese der berühmte Weiße Schwan steht. Viele Gebäude wurden vor einem Jahrzehnt restauriert, sie zeigen sich wieder in ihrer ursprünglichen Pracht. Eine wahre Augenweide!
Sibylle: Aber warum schauen sie nicht nach rechts? Sie stehen wie angewurzelt vor einer amerikanischen Eierschachtel. Was lesen sie da?
Ludmylle: Sie stehen vor der Nummer 104. Sie haben etwas Vertrautes entdeckt und halten sich daran fest. Sie stehen vor einem Laden für brasilianisches Enthaarungswachs: Es liegen Faltblätter mit Preisen aus, sie sind dabei sie mit denen ihrer Kosmetikerin zu vergleichen.
Sibylle: Oh, nein! Wenn sie den Laden betreten, haben wir sie für immer verloren. Schnell, lass uns gleich wieder den Refrain anstimmen!
Ludmylle (singt):
Pioniere, voran lasst uns vorwärts gehen!
Pioniere, stimmt an, lasst die Fahnen wehn!
Unsre Straße, sie führt in das Morgenlicht hinein;
Wir sind stolz Pioniere zu sein!
Ludmylle: Mindestens sechs Mal. Na, also! Was für eine Mühe! Wir haben sie bis zum mythischen Häuserblock C gebracht! Hier lauert die letzte große Gefahr: Rossmann! Jemand wird den unbändigen Drang verspüren, hineinzugehen. Plötzlich wird er sich erinnern, sein Shampoo aufgebraucht zu haben.
Sibylle: Vi seichas ychastviete v parade vo imya prezidenta! Vi kupite shampun‘ pozje!
Ludmylle: Sie verstehen kein Russisch.
Sibylle: Du marschierst in einer Parade für den Präsidenten! Das Shampoo kaufst du später!
Ludmylle (singt):
Heimat o Heimat, wie bist du doch so schön,
Liegst du zu unseren Füßen;
Wenn wir voll Staunen durch deine Fluren gehen
Will jeder Schritt dich begrüßen.
Ludmylle: Schließlich sehen sie die elegante Architektur, die Karl-Marx-Buchhandlung und dann werden sie einen Heidendurst haben vom vielen Singen. Zum Schluss lassen wir sie im Café Sibylle einkehren.
Sibylle: Voll mit Touristen! Steht in jedem Reiseführer. Das besondere an dem Lokal ist die Ausstellung zum Bau der Stalinallee. Und was das Essen angeht: Leute, wir sind hier in Ostberlin! Im Führer steht, dass es Torten gibt. Es stimmt, es gibt hier Torten. Aber der Tourist denkt dabei unweigerlich an Wien oder Salzburg, die zwar auch im Osten liegen, aber im Osten eines ganz anderen Landes. Sorry, do you have Sachertorte, Apfelstrudel, Schwarzwälder? Manch Wahnsinniger fragt nach Sojamilch und veganem Kuchen. Was ist denn dran, an so einem veganen Kuchen? Und dann sagen sie uns, wir kämen von einem anderen Stern!
Ludmylle: Und die Kellner, bestürzt: Das haben wir nicht, das haben wir nicht, das haben wir nicht… Den ganzen Tag lang bis zur Erschöpfung.
Sibylle: Sojamilch. Dekadente Droge! Eine Schande! Die armen Kühe mit Soja zu dopen. Und nur, um der Milch den dekadenten Geschmack von Soja zu geben. Junkies! Perverse! Wir lieben unsere Kühe!
Ludmylle: Jetzt, wo sie sich gestärkt und die Toilette aufgesucht haben, verlassen sie das Lokal und mit wenigen Schritten kommen sie dort an, wo auf der anderen, nördlichen Straßenseite die Deutsche Sporthalle stand, während hier, auf unserer Seite die Stalin-Statue ihren Platz hatte. Jetzt gibt es neue Gebäude im Norden wie im Süden. Eine Minute des Schweigens. Und wir sprechen über die Deutsche Sporthalle.
Sibylle: Nochmal? Du bist wirklich besessen von dieser Turnhalle!
Ludmylle: Wenn ein Mythos vorzeitig verschwindet, spürt man seine Abwesenheit besonders stark.
Sibylle: Unser weiblicher James Dean.
Ludmylle: Kurzes, aber intensives Leben. Wie schön sie war! Statuen, elegante ionische Säulen, gekrönt von einem mächtigen Fries mit Reliefs diverser Athleten. Ein Traum vom antiken Griechenland! Wenn sie beim Bauen nur nicht diese verdammte Eile an den Tag gelegt hätten!
Sibylle: Jetzt lassen wir sie schnell den letzten Abschnitt bis zum Strausberger Platz gehen und dabei immer den Refrain singen: (singt):
Pioniere, voran lasst uns vorwärts gehen!
Pioniere, stimmt an, lasst die Fahnen wehn!
Unsre Strasse, sie führt in das Morgenlicht hinein;
Wir sind stolz Pioniere zu sein!
Ludmylle: Strausberger Platz! Wir sind am Ziel!
Sibylle: Aber nein! Gerade jetzt müssen wir verhindern, dass sie in die U5 steigen. Wir müssen sie über den Platz hinaus drängen. Wir müssen ihnen sagen, dass die Essenz unserer Republik dort zu finden ist, zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz!
Ludmylle: Die Essenz wovon? Es gibt nur die grenzenlose Weite einer Straße, die zu breit ist, um noch eine Straße zu sein, und zu unbedeutend, um ein Platz zu sein, dazu fürchterliche Mietskasernen, eine Hundekälte oder eine Affenhitze, und nirgends ein Unterschlupf.
Sibylle: Eben.
Ludmylle: Ja, aber sie begreifen es nicht.
Sibylle: Sie begreifen es, sie begreifen es.
Ludmylle: Sie begreifen es nicht. Sie werden so schnell wie möglich in die U-Bahn-Station Schillingstraße abtauchen.
Sibylle: Sie wollen flüchten, aber wir werden sie daran hindern! Wir sagen, dass sie jetzt nicht aufgeben können! Um unserer Republik willen!
Ludmylle: Ja, und weißt du, was sie dir antworten werden?
Sibylle: Wir werden ihnen sagen, dass sie die Gelegenheit verpasst haben, zu verstehen, was es bedeutet, zu marschieren und zu gehorchen. Und das so kurz vor dem Ziel! Schade! Jedenfalls werden wir auch sagen, dass niemand die Absicht hat, die U-Bahn-Station Schillingsstraße zu vermauern, richtig?
Ludmylle: Richtig! Niemand hat die Absicht, die U-Bahn-Station Schillingsstraße zu vermauern. Warum nur mussten sie gerade uns fragen, die Führung über die Karl-Marx-Allee zu übernehmen?
Sibylle: Es ist eine Ehre, Ludmylle, es ist eine gute Gelegenheit, ihnen entgegenzukommen, mit ihnen gemeinsam zu gehen.
Ludmylle: Und du weißt, wohin sie gehen? Man sagt, dass sie jeden mitnehmen, aber hast du verstanden, wohin?
Sibylle: Mitnehmen?
Ludmylle: Ja, es heißt, sie sind vorbildlich, tugendhaft, prinzipientreu…
Sibylle: Prinzipientreu?
Ludmylle: Ja, deswegen wollen sie ja auch das Stadtschloss wiederaufbauen! Um uns diese Geschichte zu erzählen. Wir haben das Stadtschloss als Symbol des Preußischen Absolutismus abgerissen und an dessen Stelle den Palast der Republik errichtet. Jetzt haben sie uns den Palast der Republik weggenommen, mit der Ausrede, er sei hässlich…
Sibylle: …und mit Aspest vollgepumpt gewesen…
Ludmylle: …und sie sind dabei, das Stadtschloss wieder aufzubauen. Helter-Skelter. Was für ein Bubenstreich!
Sibylle: Dieser Bubenstreich kostet 500 Millionen Euro, einige Milliönchen mehr oder weniger.
Ludmylle: Träume haben keinen Preis! So können sie uns endlich glauben machen, dass das Reich Brandenburg immerdar währte, und dass die Weimarer Republik, der Nationalsozialismus und der Sozialismus nichts als vorübergehende Alpträume gewesen seien und wir schlussendlich alle unter dem Dach einer besonderen Monarchie stünden.
Sibylle: Einer besonderen Monarchie?
Ludmylle: Ja doch, die jungfräuliche Monarchie. Ein neuartiges politisches Modell, entsprungen der alten deutschen Philosophie der Reinheit. Glaubst du etwa, sie bauen das Schloss einfachnur so wieder auf? So wie die Kinder Sandburgen bauen? Um dann zu singen: „Oh, welch schönes Schloss, dirumdi, dirumda“? Das wäre ja so, als hätten wir die Stalin-Allee aus purem Spaß gebaut. Im Schloss wird der zukünftige jungfräuliche Monarch der DJM (Deutsche Jungfräuliche Monarchie) residieren.
Sibylle: Du bist dabei, mich auf den Arm zu nehmen.
Ludmylle: Man wird sehen.
Sibylle: Mir ist der Appetit vergangen. Ich frage nicht im Café Sibylle wegen der Modelle nach. Wir lassen sie morgen marschieren.
Ludmylle: Ja, aber bestell die Linsensuppe und das Bier.
18:24 Uhr Anruf beim Café Sibylle (omissis)
19:07 Uhr Auslieferung des Essens (omissis)
Siehe Eintragung Nr. 17.851 Café Sibylle, Sicherheitsarchiv.
Aufgenommen 21:18 Uhr.
Sibylle: Ludmylle?
Ludmylle: Sibylle, es war ein anstrengender Tag. Schlaf! Morgen kommen die Wessis, um uns als Touristenführer zu interviewen.
Sibylle: Ja, nur noch eine Sache.
Ludmylle: Sag schon!
Sibylle: Wenn die Jungfräuliche Monarchie kommt, was wird dann aus uns.
Ludmylle: Wir sind wie die beiden Türme des Herrn der Ringe.
Sibylle: Das heißt?
Ludmylle: Das heißt, man weiß es nicht, und jetzt schlafe!
Sibylle: Hälst du es für möglich, dass sie uns abreißen?
Ludmylle: Nichts wird erschaffen, nichts zerstört, alles verwandelt sich. Schlaf!
Sibylle: Eine allerletzte Sache noch. In was werden sie uns verwandeln?
Ludmylle: Mich in eine unbefleckte Prinzessin, dich in eine Kröte, schlaf jetzt!
Sibylle: Und warum?
Ludmylle: Ich schlafe bereits. Ich antworte nicht.
Sibylle: Na komm, ich schwöre, dass ich nicht weiterspreche.
Ludmylle: Weil du Sozialistin bist, und ich Konterrevolutionärin. Gute Nacht!
Sibylle: Nacht!
Sibylle: Ludmylle? Du bist keine Konterrevolutionärin.
Ludmylle: Morgen ist ein neuer Tag. Schlaf!
Sibylle ( singt ) :
Wirst du Deutschlands neues Leben,
Und die Sonne schön wie nie
über Deutschland scheint !
Ludmylle (singt):
Über Deutschland scheint
Sibylle: Nacht.
Ludmylle: Nacht.
Ende der Aufnahme: 21:34
Frankfurter Tor, Berlin, 28. Januar 2013, 7:49 Uhr
Aufnahme Nr. 8753
Sibylle: Juten Tag, Ludmylle! Heute ist der Tag!
Ludmylle: Juten Tag, Sibylle! Oh, nein!
Sibylle: Weißt du, was das Schöne an Gestern war?
Ludmylle: Dass die Vergangenheit immer besser als die Gegenwart ist, weil wir jünger waren?
Sibylle: Still! Die Truppe ist im Anmarsch! Das Schöne an Gestern war, dass wir ganz ungezwungen miteinander reden konnten, ohne dass uns jemand belauschte und über das, was wir gesagt haben, urteilte. Zu unseren Zeiten wäre das unmöglich gewesen. Jedes noch so unsinnige oder beiläufiges Gespräch wäre gewissenhaft aufgezeichnet worden, als hätte es sich um eine einzigartige Theateraufführung gehandelt. Sie hörten uns ständig ab und zeichneten jeden unsrer Seufzer auf.
Kannst du dir vorstellen, unser Gerede von gestern noch einmal fein säuberlich gedruckt nachzulesen? Von Humana, über die Bananenabteilung im KaDeWE, die Gründungsmythen der DDR, Spitzbart, Pippi Langstrumpf, die Bayern, den Magenbitter Unicum bis zur Jungfräulichen Monarchie… Stell dir vor, wenn West-Berlin herausfinden würde, dass wir ihre Besucher als Pauschaltouristen, Drogenabhängige und Perverse bezeichnet haben!
Ludmylle: Von wegen Weltkulturerbe der UNESCO! Die würden uns doch am liebsten klammheimlich mit Arsen vergiften, um dann sagen zu können: „Nein, wie komisch, die Kuppeln vom Frankfurter Tor sind verschwunden! Sie werden wohl mit der Raumsonde Sputnik einen Abstecher zum Mars gemacht haben, als Botschafterinnen der DDR im All. Wir fiebern auf ihre Rückkehr hin, um sie würdevoll als Weltkulturerbe feiern zu können.“ Mir ist, als würde ich sie schon hören.
Sibylle: Gestern haben wir ungestört die Geschichte Revue passieren lassen, heute müssen wir die Tour über unsere Allee führen. Was für ein Stress! Sie haben bestimmt schon 300 solcher Touren gemacht! Wir erzählen nur ein paar Dinge, denk´daran, dann sind wir sie wieder los und haben keine weiteren Scherereien. Lass du mich nur sprechen – und dass du mir ja nicht auf den Gedanken kommst, zu singen!
Ludmylle: Darf ich wenigstens erwähnen, dass unsere Hymne in G-Dur und ihre in Es-Dur gespielt wird?
Sibylle: Still! Sie sind gleich da!
Ludmylle: Warum nicht? Das ist doch keine Beleidigung! Das ist eine Tatsache!
Sibylle: Ich spreche!
Ludmylle (singt):
Denn es muss uns doch gelingen
Dass die Sonne schön wir nie
Über Deutschland scheint
Über Deutschland scheint.
Ende der Aufzeichnung 7:56 Uhr.
Übersetzt von Alberto Faussone