Gendarmenmarkt

Raffaela Rondini

Herzlich Willkommen auf der Baustelle der Welt!

Doch, doch, du bist noch in Berlin! Du bist hier, um Spaß zu haben, oder? Dann bist du hier genau am richtigen Ort, mein Freund! Herzlich Willkommen am Gendarmenmarkt!

Nein, das hier ist keine Disco, die Disco hast du gerade verlassen, weißt du nicht mehr? Du hast Sonntagnacht um 2 Uhr das Berghain betreten und bist dort bis um 7 Uhr geblieben. Dann hast du dich zum Ostbahnhof begeben, wo du die S-Bahn zum Alexanderplatz verpasst hast. Du wolltest nicht wieder hinaus auf den Platz, weil es dir zu kalt war, also hast du das U-Bahn-Netz studiert und beschlossen, die U2 zu nehmen, um der roten Linien zu folgen. Am Hausvogteiplatz bist du ausgestiegen – der Name klang, als wärst du zuhause angekommen – und bist einfach losgelaufen, bis hierher zum Gendarmenmarkt. So hast du es mir gerade erzählt. Und warum ich dir jetzt antworte? Weil die großartige Akustik des Platzes selbst dein Flüstern zu mir hinaufträgt.Weißt du, dass hier im Sommer Freilicht-Konzerte veranstaltet werden? 6000 Menschen versammeln sich hier, um Opern und Sinfonien zu hören. Versuche einmal, in der Mitte des Platzes eine Münze auf den Boden fallen zu lassen … du hast keine … nein, der Bancomat hilft dir nicht weiter … nein, nicht das Handy, um Himmelswillen … also gut, jedenfalls kann ich deine Stimme sehr gut vernehmen. Nein, meine Stimme ist nicht übersetzt, sie ist original französisch. Bien sûr spreche ich französisch, ich bin Französin! Und hör auf damit, dich hinter deinem Rücken umzusehen. Hinter dir ist nur die Akademie der Wissenschaften. Ich bin hier oben rechts, auf der nördlichen Seite: Enchantée, je suis Isabelle, die Kuppel des Französischen Doms. Oh, merci! Toi aussi, tu es beau. Weißt du, wie dieser Platz zu DDR-Zeiten hieß? Platz der Akademie, wegen des gleichnamigen Gebäudes hinter dir. Aber von dort spricht niemand am frühen Sonntagmorgen. Zu dieser Stunde spreche nur ich auf dem Gendarmenmarkt. Nein, meine Zwillingsschwester vom Deutschen Dom, der sich an der südlichen Seite des Platzes befindet, schläft noch.

Nein, du hast nicht zuviel getrunken: Wir sind uns wirklich gleich, die Kuppel vom Deutschen Dom und ich, die Kuppel vom Französischen Dom. Zumindest äußerlich sind wir Zwillingskuppeln.

Natürlich können Kuppeln sprechen! Aber nur am frühen Sonntagmorgen, wenn niemand auf dem Platz ist! Siehst du? Da sind nur du und ich, Schiller mit den Musen, der Deutsche Dom, die Akademie der Wissenschaften und das Schauspielhaus, das seit 1984 Konzerthaus heißt.

Nein, Schiller war nicht mit dir im Berghain. Nein, nicht deswegen, natürlich können sich Statuen bewegen! Nein, auch die Musen haben sich letzte Nacht nicht von der Stelle gerührt.

Seitdem Schiller zu uns zurückgekehrt ist, läuft er jede Nacht um den Platz. Aber er war lange Zeit fort, wenn du wüsstest… 1935 wurde er fortgeschafft, weil die Nationalsozialisten ihn nicht liebten und Platz für die Soldaten benötigten. Als Berlin geteilt wurde, befand er sich im Park am Lietzensee im Westen Berlins, ohne die Musen, die im Osten geblieben waren. Der Dichter und die Musen durch die Mauer voneinander getrennt. Dort blieb er bis 1986. Erst kurz vor dem Untergang der DDR kehrte er im Rahmen des Kulturgüteraustauschs wieder zu uns zurück. Als der Generalsekretär des Zentralkomitees Erich Honecker anlässlich der 750-Jahr-Feier der Gründung Berlins hier die illustren Gäste empfing, war auch Schiller anwesend. Wie auch bei dem denkwürdigen Konzert unter der Leitung Leonard Bernsteins an Weihnachten des Jahres 1989: Die 9. Symphonie von Beethoven, mit Orchestern und Chören aus Ost und West – was für eine Freude! Bei der Hymne an die Freude wurde das Wort „Freude“ durch „Freiheit“ ersetzt. Kannst du dir das vorstellen? Freiheit schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium… Hast du ein Smartphone mit Internetzugang? Gut! Schau es dir auf Youtube an, du wirst beeindruckt sein.

Schiller war auch dabei, als Helmut Kohl seine erste Rede als Kanzler aller Deutschen just auf diesem Platz hielt.

Ja, denn das ist wirklich der Platz der Plätze, weißt du? Wo die Dinge ausgewiesener Maßen an ihren Platz gestellt werden. Seit jeher ist dies ein Ort für öffentliche Verkündigungen, ein Ort, an dem viel geschehen ist. Bis heute versammeln sich hier die Menschen, um Jubiläen zu feiern, aber auch um zu protestieren. Aber ja doch! Auch junge Leute! Kürzlich haben sich hier beispielsweise junge Lehrer eingefunden, um gegen ihre gegenwärtigen Arbeitsbedingungen zu protestieren. Sie haben eine regelrechte Choreographie mit roten Regenschirmen aufgeführt, die auf und zu gingen. Das Mikrofon machte die Runde, jeder sagte seine Meinung. Was sagst du? Die Toleranz! Ach, die Toleranz! Die Freiheit, seine Meinung zu äußern, ohne diskriminiert zu werden! Bravo! Das, was ihr jungen Leute, die ihr nach Berlin kommt, sucht, fanden hier schon die Hugenotten vor dreieinhalb Jahrhunderten. Ludwig XIV., König von Frankreich, hatte 1685 das Edikt von Nantes, erlassen von Heinrich IV. 1598, widerrufen, wodurch in Frankreich die Verfolgung religiöser Minderheiten wieder einsetzte. 200.000 Hugenotten verließen daraufhin das Land. Etwa 20.000 von ihnen siedelten sich in Brandenburg an, darunter viele direkt in Berlin. Das Edikt von Potsdam garantierte ihnen zahlreiche kulturelle und finanzielle Privilegien. Sie wurden mit offenen Armen empfangen! Den Refugiès, wie sie genannt wurden, war es gestattet, ihre Traditionen zu pflegen, Französisch statt Deutsch zu sprechen und ihre Religion in einem eigenen Gotteshaus auszuüben. Dafür ließen sie 1705 diese schöne Kirche unter mir in Form eines Zentralbaus errichten. Sie nannten sie Französische Friedrichsstadtkirche, nach dem neuen Viertel, in dem sie erbaut wurde. Später hieß sie einfach nur noch Französischer Dom. Diese französischen Einwanderer calvinistischen Glaubens waren den damaligen Brandenburgern kulturell überlegen, ihre Ansiedlung in Berlin brachte Fortschritt für ganz Preußen. Sie führten verfeinerte Arbeitsweisen und -techniken, sowie neue Manufakturwaren und Rohstoffe ein. Etwas später am Tag, um 10 Uhr, öffnet das Hugenottenmuseum zu meinen Füßen: Wirf einen Blick hinein!

Dir ist, als hättest du diese Geschichte schon einmal gehört! Aber du hättest nicht gedacht, dass sie schon so alt ist! Siehst du? Die ältere Geschichte ist zuweilen aktueller als die jüngere!

Für die Hugenotten währte die Idylle bis zum Ausbruch der Napoleonischen Kriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts, infolgedessen der Gebrauch der französischen Sprache nicht länger toleriert wurde. Bis dahin jedoch erlebte Berlin ein Jahrhundert der Zweisprachigkeit, das in der Sprache und in der Kultur der Stadt deutliche Spuren hinterließ. Wenn du Zeit hast, erzähle ich dir, was sich im 18. Jahrhundert hier auf dem Platz ereignete. Möchtest du vorher einen Kaffee trinken?

Ich wüsste nicht. Wenn du nichts dagegen hast, ein paar Schritte zu gehen, kannst du zum Café Einstein am Boulevard Unter den Linden gehen, ein schönes, elegantes und gepflegtes Lokal, das einen Besuch lohnt. Komm dann zurück, wenn du magst.

(Wenn sie dich um eine Kaffeepause bitten, kommen sie manchmal wieder, manchmal aber auch nicht… wer weiß ob er zurückkommt. Heute ist Sonntag, die Geschäfte haben geschlossen, es gibt ein wenig Hoffnung… auch scheint er mir ein sympathischer Junge zu sein… ein Typ aus dem Berghain… wer weiß. Was sie an diesem Berghain bloß alle nur finden? Eines Nachts werde ich mich auf den Weg machen und mir den Laden einmal selbst anschauen!)

Da bist du ja wieder! Das freut mich! Wie war dein Name noch? Pierre! Ah, enchantée!

Architektonischen Attraktionen lassen sich überall in Berlin entdecken. Wenn man aber Sehnsucht nach zuhause bekommt, nach den wohlbekannten, unserem Denken gemäßen Regeln der Harmonie, dann kommt hier am Gendarmenmarkt der Geist wieder zur Ruhe. Dann beginnt die uns vertraute Saite wieder zu schwingen, und wir finden zu uns zurück.

Der Gendarmenmarkt beruhigt nicht nur das Gemüt, er ist auch von seiner Gesamtanlage her ein Musterbeispiel an Schönheit.

Schau uns an! Wir sind drei Gebäude, erschaffen im Geiste des Illuminismus – ja sogar vier, wenn du dich zur Akademie der Wissenschaften umdrehst. Wir sind licht, elegant und wohlproportioniert, nicht übertrieben prunkvoll, und stehen in vollkommenem Einklang miteinander. Unser Verhältnis zueinander ist mitreißend und wohl geordnet zugleich.

Der Klassizismus blickt zurück auf die Kultur der alten Griechen und Römer, vom Wunsch beseelt, die vergangene Herrlichkeit wieder aufleben zu lassen. Zugleich aber ist er dem illuministischen Gedankengut verbunden – was ihn vom Barock unterscheidet, der zur damaligen Zeit als veraltet und überfrachtet galt. Im Klassizismus finden die Formen wieder zur Klarheit, Schlankheit, Nüchternheit und zum Wesentlichen zurück: Schau uns an!

Wir sind im 18. Jahrhundert: ein großes Jahrhundert! Ein Zeitalter dramatischer Umbrüche. Es begann mit dem Absolutismus und endete in der Französischen Revolution! Zu allen Zeiten sprechen Jugendliche wie du vom Umsturz aller Werte, um für das Neue Platz zu schaffen. Immer wieder im Verlauf der Geschichte… bitte? natürlich, auch in der Gegenwart, kommt es zu Revolutionen! Aber das, was sich im 18. Jahrhundert ereignete, war, wie soll ich sagen, wirklich revolutionär. Aristoktratie und Monarchie standen damals für das Althergebrachte, den Status Quo, die politische Macht und die kulturelle Hegemonie. Während in den Staaten Südeuropas die Kirche starken Einfluss auf die Moral und das soziale Verhalten der Menschen ausübte, hatte man sich in Deutschland eine gewisse religiöse Freiheit bereits erkämpft. Hier, in diesem ganz besonderen geistigen Klima, in regem Austausch mit den französischen Philosophen, erblühte der Illuminismus.

Schau auf meine Kuppel! Anstelle des Kreuzes findest du die Singende Religion, während auf der Kuppel des Deutschen Doms die Siegreiche Tugend thront. Noch bevor Friedrich I. zu Friedrich I. wurde, als er also noch Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg war, bewies er einen erstaunlichen Weitblick, indem er den Mathematiker und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz mit der Gründung der Akademie der Wissenschaften, das Gebäude hinter dir, betraute. Hier trafen sich die angesehendsten Gelehrten und Wissenschaftler der Zeit, in der die Geistes- und die Naturwissenschaften noch als unterschiedliche Aspekte ein und desselben Wissens galten. Mathematiker beschäftigten sich mit Philosophie, und Philosophen mit Mathematik. Brillante Köpfe wie Eulero, Lagrange, Lambert, D´Alembert, der Marquis de Condorcet und Kant verbrachten hier ihre Tage mit Studieren, Denken, Schreiben, Lehren, Diskutieren und zuweilen mit Streiten.

Im Verlauf ihrer Geschichte brachte die Akademie der Wissenschaften 78 Nobelpreisträger  hervor. Albert Einstein war Akademiemitglied, und noch heute gehen hier die renommiertesten Wissenschaftler ein und aus.

Wir Kuppeln wurden zwischen 1780 und 1785 nach den Plänen von Carl von Gontard erbaut, in der Ära Friedrich II., während die Kirchengebäude aus der Zeit Friedrich I. stammen, des Soldatenkönigs, der 1701 den Thron bestiegen hatte. Die Kirche unter meiner Zwillingskuppel – sie wird jetzt Deutscher Dom genannt, wird aber nicht mehr als Gotteshaus genutzt – wurde 1708 gegenüber der Französischen Friedrichstadtkirche errichtet, als evangelisch reformierte Garnisonskirche, d.h. als Soldatenkirche.

Auch der Name des Platzes, Gendarmenmarkt, ist militärischen Ursprungs. „Gensdarmes“ (abgeleitet aus dem französischen gens d´armes) hieß das berühmteste preußische Reiterregiment, dessen Garnison sich unweit des Gendarmenmarktes befand. Friedrich I. hatte eine große Leidenschaft für das Militär, wie man hier gut sehen kann, daher rührt auch sein Beiname „Soldatenkönig“. Sein Nachfolger Friedrich II,. auch Friedrich der Große genannt, der ab 1740 herrschte, fühlte sich hingegen vom französischen Illuminismus angezogen. Aus Berlin wollte er ein kleines Paris machen. Wir Kuppeln vom Gendarmenmarkt sind Teil dieses Traums. Ihn zu verwirklichen blieb ihm kaum Zeit, er starb 1786. Auf dem Thron folgte ihm sein Neffe Friedrich Wilhelm II., der bis zu seinem Tode im Jahre 1797 regierte.

1774 erteilte Friedrich der Große dem Baumeister Georg Christian Unger den Auftrag, zwischen den Kirchen ein kleines französisches Theater zu bauen, das Komödienhaus. Wenige Jahre später beschloss er, das Theater vergrößern zu lassen. Unter der Leitung Carl Gotthard Langhans entstand so das National Theater mit 2000 Sitzplätzen. Ja, du hast richtig verstanden: Friedrich I. gab dem Platz den Namen, er ließ die Akademie der Wissenschaften gründen und die beiden Kirchen bauen. Friedrich II. setzte den Kirchen die eleganten Kuppeln auf und gab den Auftrag zum Bau des Theaters. Weißt du, mit welchem Spruch er den Giebel versehen ließ?

„Ridentur et corriguntur mores“, was soviel bedeutet wie: „Die Sitten werden belacht und verbessert“.

Dieser Spruch kann natürlich auf unterschiedliche Weise interpretiert werden. Für Friedrich II. war dies das Motto seines erzieherischen Bestrebens, dem Volk eine freie, laizistische Kultur näher zu bringen – ein damals sehr fortschrittliches Denken. Ein Herrscher, der sich für die Freiheit der Satire einsetzt! Findest du das nicht großartig? Weißt du, was Gottholm Ephraim Lessing, damals etwa in deinem Alter, dazu sagte? Er könne sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt als Berlin zu leben. Ja, richtig. Genauso, wie es viele von euch heutzutage auch sagen. Lessing, Moses Mendelsohn und Friedrich Nicolai waren drei wahrheitsliebende Freunde und darüber hinaus neugierige Freigeister, die nichts anderes taten, als alle möglichen Ideen zu entwickeln. Morgens traf man sich im Hause Nicolais, der vom Vater die Buchhandlung, die Bibliothek und den Verlag geerbt hatte. Abends setzte man die Unterhaltung bei einem guten Tropfen im Weinlokal Baumannshöhle fort.

Weißt du, was im Jahre 1785 geschah? Wie, keine Ahnung? Wir sprachen bereits darüber! Es ist das Jahr, in dem wir Kuppeln erbaut wurden! Im selben Jahr erschien auch ein überaus bedeutendes Manifest mit dem Titel „Neuer Weg zur Unsterblichkeit für Fürsten“ – hochexplosiver politischer Zündstoff, anonym veröffentlicht in der Berlinischen Monatschrift. Für einen Monarchen gäbe es, hieß es dort, nur einen einzigen Weg, wenn nicht auf das ewige, so doch auf ein langes Leben hoffen zu dürfen: Indem er seinem Staat eine Verfassung gebe, die nicht einfach durch die Willkürentscheidung des Herrschers, oder eines seiner Nachfolger geändert werden könne. Was dort verlangt wurde, war nichts weniger als die Umwandlung der Absolutistischen Monarchie in eine Konstitutionelle Monarchie, in welcher der Königlichen Familie lediglich repräsentative Aufgaben zufielen. Nie zuvor wurde ein Herrschender mit derartigen Forderungen konfrontiert! Was für Zeiten!

Und Wilhelm von Humboldt, der später die Berliner Universität gründen sollte, war mit 22 Jahren in Paris, um die Bastille zu erstürmen und die Privilegierung des Adels abzuschaffen. Diese Zeit jugendlichen Aufbegehrens währte bis 1800. Sie mündete in das Zeitalter der Romantik, der Philosophie und der großen Politik, gekrönt mit der nationalen Einheit.

Willst du wissen, wie die Geschichte im neuen Jahrhundert hier auf Platz weiterging? Es war eine jugendliche Epoche. Nach der Französischen Revolution war nichts mehr, wie es vorher gewesen war. Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit! Das 18. Jahrhundert stand ganz im Zeichen des Umbruchs. Die Gesellschaft erlebte eine Umformung, das Leben der Menschen wurde von neuen Werten bestimmt. Die Stadt gehörte den jungen Leuten, deren Denken inspiriert war von den großen Philosophischen Werken, von der Poesie, von der Musik, von der Malerei, von der Bildhauerei… von der Bildhauerei… Warum formst du mit deinen Händen ein T? Ah, du brauchst eine Pause? Noch einen Kaffee? Ist das nicht zuviel? Iss wenigstens etwas dazu! Du kannst hier in die Bar gehen.

(Wer weiß, ob er wiederkommt. Er schien mir interessiert zu sein… aber auch physisch etwas mitgenommen. Was treiben die bloß in diesem Berghain? Wenn er zurückkommt, frage ich ihn. Hoffentlich kommt er zurück.)

Hallo Pierre! Ich freue mich, dass du wieder da bist! Das 19. Jahrhundert war wirklich toll hier auf dem Platz. Solch begeisternde Jahrzehnte hat man später nicht mehr gesehen. 1806, am 23. Oktober, um genau zu sein, kamen erneut Franzosen nach Berlin – diesmal nicht als schutzsuchende Hugenotten, sondern als Eroberer, oder, wie Napoleon zu sagen pflegte, als Exporteure der Freiheit. Das Blatt hatte sich gewendet. Jetzt schauten die Preußen mit Verachtung und Argwohn auf diese verlotterten, aber siegreichen Truppen. In Reaktion auf die französische Besatzung begann sich ein nationales Bewusstsein herauszubilden.

Am 13. Dezember 1807 hielt Johann Gottlieb Fichte seine berühmten „Reden an die Deutsche Nation“, und der Preußische König Friedrich Wilhelm III. hielt die Zeit für gekommen, die Berliner Universität zu gründen, um sich zumindest auf kulturellem Gebiet dem französischen Einfluss zu entziehen. Wilhelm von Humboldt, der junge Mann, der im Alter von 22 Jahren vor der Bastille auf die Barrikaden gestiegen war, hatte sich dank intensiven Studiums der Geschichte, der Sprachen und der Philologie zum Universalgelehrten entwickelt und war jetzt Kulturminister. 1809 erhielt er den Auftrag, die Berliner Universität zu gründen, die am 15. Oktober 1810 eingeweiht wurde. Zum ersten Rektor der Universität wurde Johann Gottlieb Fichte gewählt. Er war nicht nur ein großer Philosoph, sondern auch berühmt für sein Charisma und sein lebhaftes Temperament. Schnell wurde klar, dass die Intellektuellen die neue Universität als Ort der freien Forschung und Lehre betrachteten, während sie für den König ein Mittel zur Stärkung des patriotischen und moralischen Zusammenhalts darstellte, geleitet von der Treue zur Monarchie.

Was sagst du? Ja, interessant. Das kommt dir auch bekannt vor, nicht wahr?  Es ist wie heute auch!

Hart und unnachgiebig waren unsere Professoren! 1813 unterzeichneten Fichte, Arndt, Jahn, Schleiermacher und viele andere Professoren gemeinsam mit 259 Studenten ein Manifest, in dem sie klarstellten: „Wir kämpfen nicht für den König, sondern für die Freiheit!“ Darunter verstanden sie nicht nur die Freiheit von den Franzosen, verbunden mit dem Wunsch, eine deutsche Nation zu gründen, sondern auch die Freiheit der Demokratie!

1817 brannte das Nationaltheater auf dem Gendarmenmarkt nieder. Friedrich Schinkel erhielt den Auftrag, an dessen Stelle ein neues Theater zu errichten. Er machte sich sofort an die Arbeit, hatte er doch nur auf eine solche Möglichkeit gewartet. Was sagst du? Auch das ein déja-vu? Ein vernichtendes Feuer und dann der Wiederaufbau?  Ja, das gab es damals auch! Genauso wie das ständige Hin-und-her-gerissen-sein  angesichts der Entscheidung, das Alte wiederherzustellen, oder aber neue Wege einzuschlagen. Ja, ganz so wie heute! Der Wiederaufbau des Theaters erfolgte zwischen 1819 und 1821, und Schinkel drückte dem Bau seine unverkennbare Handschrift auf. Ein klassischer Stil, jedoch in einer ganz eigenen Weise überarbeitet. Auf einem sechs Meter hohen Sockel führt eine freie Treppe hinauf zu einem Bogengang mit sechs schlanken, ionischen Säulen, die ein Tympanon tragen. Dieses neue frontale Element befindet sich vor einem zweiten zentralen Bau, der ebenfalls von einem Tympanon gekrönt ist. Im Hintergrund werden die verbleibenden Räume des Theaters seitlich fortgeführt, wodurch die Körper in ein luftig harmonisches Spiel treten, das die Eleganz der beiden mit Kuppelkirchen am Rande des Platzes hervorhebt und spiegelt. Sieh nur, wie schön!

Das Schauspielhaus wurde am 27. Mai 1821 mit der Aufführung von Goethes Tragödie „Iphigenie auf Tauris“ eröffnet und eingeweiht: Die schöne, freie Seele, die Kompromisse ablehnt und dem Guten zugewandt ist, dem Angelpunkt des klassizistischen Theaters. Die berühmtesten Schauspieler und Musiker sind seither hier aufgetreten. Paganini brachte das Publikum buchstäblich zum Rasen, Liszt rührte es zu Tränen, am bewegendsten aber war sicherlich die Welt-Uraufführung des „Freischütz“ von Carl Maria von Weber. Heute gilt sie als die erste große Romantische Oper in deutscher Sprache. Niemand wäre damals in der Lage gewesen, solch ein Urteil zu fällen. Unübersehbar aber war die Ergriffenheit der Zuschauer, die diese Musik förmlich in sich aufsogen. Weber hatte urdeutsche Legenden und Lieder gesammelt, von herber Grundstimmung, und sie durch eine machtvolle Musik aufgeladen. Der Traum einer ganzen Epoche schien in dieser Oper plötzlich in Erfüllung zu gehen. Es herrscht die übernatürliche, mysteriöse Dimension des frühen Romantizismus vor. Die Geschichte spielt in einem Naturszenarium, in dem es um mythische Werte, um den Kampf zwischen Gut und Böse, Prüfungen, Magie, Ahnenerinnerungen, und – in der berühmten Wolfsrachen-Szene – um das Lob des freien, selbst bestimmten Lebens geht. Die Orchestrierung ist mitreißend: Posaunen, Fagotte, Pauken, Streicher, Hörner und Klarinetten – alles in einem atemberaubenden Tempo. Mit diesem überschwänglichen und bedrohlichen, aber zugleich unverfälschten und naiven Gefühl der Musik-Natur, wendet sich Agatha, die zukünftige Braut, an den Mond und den Jägerchor… Was sagst du? Du weißt genau, wovon ich spreche? Bravo! Du kennst diese Oper! Gut? Was sagst du? Es erinnert dich ans Berghain?… Was zum Teufel hat der Jägerchor mit dem Berghain zu tun?

Kann man das wenigstens auf dem Handy sehen? Ja und nein? Nein? Man muss selbst hingehen? Bestimmte Dinge muss man selbst erfahren haben? Das Internet kann die direkte Erfahrung nicht ersetzen? Siehst du, wir sind doch einer Meinung! Einmal werde ich ins Berghain gehen… wer weiß, ob ich dort den Geist von damals wiederfinde… was sagst du? Das ist eine andere Geschichte? Natürlich, und ihr seid andere Menschen, das kann man nicht vergleichen. Aber diesen gewissen Geist würde ich nur allzu gerne wiederfinden. Ich weiß, dass ich den Jägerchor nicht finden werde, aber wer weiß,… vielleicht diese Lust, zu entdecken, zu erfahren und sich dann auf gewisse Weise auf die Probe zu stellen,… oder einfach nur auf die Suche zu begeben… meinst du nicht?

Weißt du, was Schinkel gesagt hat, ja, der Schinkel, der die Herrlichkeit vor deinen Augen gebaut hat und nicht nur das? Einer der größten Architekten aller Zeiten, der innerhalb weniger Jahrzehnte Berlin verschönert hat?

Überall ist man nur da wahrhaft lebendig, wo man Neues schafft, überall, wo man sich ganz sicher fühlt, hat der Zustand schon etwas Verdächtiges, denn da weiß man etwas gewiss. Also etwas, was schon da ist, wird nur gehandhabt, wird wiederholt angewendet, dies ist schon eine halb tote Lebendigkeit. Überall da, wo man ungewiss ist, aber den Drang fühlt und die Ahnung hat, von und zu etwas Schönem, welches dargestellt werden muss- da, wo man also sucht, ist man wahrhaft lebendig.

Ach, ja? Etwas Ähnliches sagen deine Idole auch? Siehst du!

Nein, Schinkel war nicht tätowiert. So viel ich weiß, trug er auch keine Piercings. Er hat lange studiert und war in Rom, die Stadt seiner Inspiration und seiner Leidenschaft. Dort hat er als Illustrator gearbeitet und Wilhelm von Humboldt getroffen. Reisen und Studieren waren und sind nach wie vor unabdingbar, will man die Welt verstehen. Was sagst du? Ah, das denkst du auch? Siehst du!

Nur, wer den Dingen auf den Grund geht, ist in der Lage vorauszublicken.

Aber wo waren wir noch stehen geblieben? Ach ja, wir sprachen über die Universität. Die Studentenrevolte war nur die Speerspitze eines allgemeinen Aufstands, der viele Völker in Europa ergriffen hatte. Zu Unruhen kam es zur damaligen Zeit nahezu überall.

Als Friedrich Wilhelm IV., der mit den Studenten sympathisierte, den Thron bestieg, hatte sich der Protest bereits auf ganz Deutschland ausgeweitet. 1836 kam Karl Marx nach Berlin, fünf Jahre später Friedrich Engels. Der König versäumte es, rechtzeitig demokratisch Reformen wie die Abschaffung der Zensur anzukündigen, und so brach im März 1848 in Berlin die Revolution aus. Die Studenten vereinten sich zu bewaffneten Korps, Bürgertum und Arbeiterschaft schlossen sich ihnen im Kampf gegen den Absolutismus an. Vom 19. September bis zum 10. November 1848 wurde unser Theater nicht als Opernhaus genutzt, sondern als Versammlungsort der Repräsentanten des Preußischen Volks. Gefordert wurde eine Verfassung – am Ende aber kam es zu einer Restauration im Sinne des Preußischen Absolutismus. Und doch bewegte man sich in zielstrebig in Richtung des Zusammenschlusses  und der Staatsgründung Deutschlands. In der Akademie hinter dir verkehrten  mittlerweile Giganten wie Gauss, Frobenius, Kirchhoff, Werner von Siemens, Röntgen, Alexander von Humboldt (Wilhelm von Humboldts Bruder und passionierter Geograph, Botaniker und Biologe), Virchow, Schelling und Mommsen. Verzieh nicht so dein Gesicht! Das sind Giganten des Geistes, Pierre, und keine Yetis! E poi comunque non attaccano alle spalle! Jetzt hatte sich das Wissen in ein humanistisches und ein naturwissenschaftliches gespalten. Die Zeiten änderten sich auf unserem Platz und verfinsterten sich schließlich. 1871 schuf Reinhold Begas die Schiller-Statue, das Symbol nationaler Kultur, mit den Musen.

Dann folgten die zwei Weltkriege. Am Ende des Zweiten Weltkriegs lagen wir in Trümmern. Wir waren in den Besitz der DDR übergegangen, die sich aber nicht viel aus uns machte. 1966 begann man etwas lustlos, den Deutschen Dom zu restaurieren, die Arbeiten sollten sich bis Mitte der 90er Jahre hinziehen. Der Architekt Jürgen Pleuser verband die Kuppel des deutschen Doms mit dem darunter liegenden Saalbau zu einem einzigen beeindruckenden Raum, der jetzt die Dauerausstellung des Deutschen Parlaments zur Deutschen Geschichte beherbergt: Fragen an die Deutsche Geschichte, Wege – Irrwege – Umwege. Der Eintritt ist frei, ich kann dir den Besuch nur wärmstens empfehlen. Man bekommt ein Glas Wasser angeboten und es gibt sehr elegante Toiletten. Vor allem kannst du dich dort in die Geschichten vertiefen, die ich dir erzählt habe, und dich über vieles andere informieren. Meine Kuppel wurde samt Kirche 1977 restauriert, jedoch nicht auf so radikale Weise wie meine Zwillingsschwester. Ich bin nach wie vor getrennt von dem unter mir liegenden Saalbau. Du kannst auf die Kuppel hinaufsteigen, es kostet 3 Euro, und den Gendarmenmarkt von oben bewundern. Was sagst du? Du willst zu mir hinauf kommen? Ja gern, wenn du willst. Auch wenn das Panorama nicht so spektakulär ist wie das, was sich dir von Clara aus, der Reichstagskuppel, bietet, solltest du es dir trotzdem nicht entgehen lassen. An die Pracht des Gendarmenmarktes grenzt eine Zeile mit Plattenbauten aus DDR-Zeiten. Du wirst dich fragen: „Wo sind wir hier? Warum diese Kontraste an einem Ort? Kann Klassizismus sich mit Plattenbauten umgeben? Er kann. In Berlin. Eine Kuppel wie ich zum Beispiel könnte, gerade weil ihr der Kopf noch nicht so fest auf dem Halse sitzt, eines Nachts beschließen, sich in die Schlange vor das Berghain einzureihen, während du an einem Sonntagmorgen wie heute hier bist, um mir zuzuhören.

Weißt du, was Berlin immer ausgezeichnet hat? Du wirst es verstanden haben, jetzt wo du etwas über die Hugenotten, den Illuminismus, Friedrich II. und Schinkel gehört hast. Berlin war stets ein Ort, an dem unterschiedlichste geistige Strömungen und Kulturen aufeinander trafen, und somit auch unterschiedliche Kunstrichtungen friedlich koexistieren konnten.

Diese Offenheit, dieser aufgeschlossene Geist ist tief in der Vergangenheit verwurzelt, das ist es, lieber Pierre, was ich dir heute Morgen sagen wollte. Und es freut mich, dass du geblieben bist und mir zugehört hast! Von all den Worten, die von hier oben auf dich herabgeprasselt sind, wäre es mir nur wichtig, dass du in Erinnerung behältst, dass alles, was Unveränderlich erscheint, in Wirklichkeit in stetem Wandel begriffen ist. Und dass Dinge, die gleich zu sein scheinen, wie die beiden Kuppeln vom Gendarmenmarkt, bei genauerem Hinsehen ganz anders sind. Die Geschichte, die Kunst sind von einem ständigen Kommen und Gehen geprägt, zur gleichen Zeit aber beinhalten sie auch immer die Entdeckung und das Abenteuer der Zukunft, die jetzt die eurige ist, lieber Pierre! Bevor du gehst, grüße noch die Musen, die Schiller umringen.

Da ist die lyrische Muse mit der Harfe, die Muse der Geschichte mit den Namenszügen von Lessing, Kant und Goethe versehen, die Muse der Tragödie mit Maske und Dolch, sowie die Muse der Philosophie, eine Pergament entrollend, auf dem zu lesen ist: Erkenne dich selbst!

Und jetzt geh, mein Lieber! Lass es dir gut gehen! Keine Ursache! Ich wünsche dir auch einen schönen Sonntag!

Übersetzt von Alberto Faussone

6 Jahren vor