Es gibt viele Städte, die aufgrund ihrer Geschichte und Kultur interessant sind, aber Berlin ist es auf besondere Weise. Diese Metropole ist jetzt 781 Jahre alt – wenig, verglichen mit den Hauptstädten der großen Kulturen. Und doch verliefen die letzten 300 Jahre Berlins derart ereignisreich, dramatisch und zuweilen absurd, dass die Stadt auch heute noch von einem magischen Geist durchdrungen und einer unbändigen Kraft angetrieben zu sein scheint.
Diese Energie entspringt natürlich auch der Notwendigkeit, in die Zukunft zu schauen und gleichzeitig die Erinnerung an die jüngere, nicht vollends zu bewältigende Vergangenheit zu bewahren. Und doch reicht das nicht, um den Antrieb Berlins zu erklären.
Man kann versuchen, bestimmte Themen und Verläufe herauszulösen, um sie in unseren üblichen räumlichen und zeitlichen Kategorien zu fassen, aber die Bilder legen sich ständig übereinander, wie die Motive in einer Sinfonie, die uns immer wieder zum Staunen bringt. Es ist, als schaue man in ein magisches Kaleidoskop, das sich nicht beherrschen lässt. Das ureigene Merkmal dieser großen Hauptstadt ist es, aus Kontrasten zu bestehen, aus unzähligen Bildern, die sich überlagern, aber dennoch für sich stehen.
Will man sie festhalten, entfliehen sie von heute auf morgen. Das Gebäude, das letzte Woche noch da war, ist heute verschwunden, und in nur einer Jahreszeit ist auf einer Wiese ein neuer Wolkenkratzer entstanden. Man jagt man Berlin vergeblich hinterher, die Stadt lässt sich nicht bändigen. Man muss schon warten, dass Berlin zu einem kommt. Und in der Regel wartet man nicht lang, die Stadt ist redselig. In diesem schmalen Band kommen fünf Berliner Kuppeln zu Wort, sie richten sich an offene Ohren. Eine dieser Kuppeln ist französischer Herkunft, eine andere war lange Zeit mit den Amerikanern zusammen, zwei wurden von Moskau gewollt, um die Größe des Sozialismus zu repräsentieren, während die jüngste die schöne Tochter eines englischen Architekten ist.
Sie sind allesamt geprüfte Fremdenführer berlinischer Art, d.h., sie nehmen kein Blatt vor den Mund und haben eine Unmenge zu erzählen. Als hätten sie lange nach einem Besucher Ausschau gehalten, überschütten sie ihn mit einer Flut öffentlicher und persönlicher Erinnerungen und schicken ihn ganz berauscht von Berlin wieder nachhause.
Doch in die Erzählung mischen sich Misstöne, wenn es um die jüngere Geschichte geht.
Auf die dummen Fragen DDR-besessener Touristen hin, die glauben, in wenigen Stunden alles über die DDR erfahren zu können, sehen sich die beiden Kuppeln vom Frankfurter Tor genötigt, den alten Feinden von damals von der eigenen Kindheit und Jugend zu erzählen. Sie verfügen noch nicht vollständig über die neue, neutrale Terminologie, die sie in die Lage versetzen würde, die alte, in der Kindheit eingetrichterte Denkweise hinter sich zu lassen.
So treten bei einem scheinbar unverfänglichen Thema wie dem der Beschreibung der Frankfurter-Stalin-Karl-Marx Allee immer wieder Ressentiments und terminologische Schwierigkeiten an den Tag.
Eine der beiden Kuppeln vom Frankfurter Tor – sie hat ihre tiefe Enttäuschung über die Politik noch nicht verwunden – traut niemandem mehr über den Weg. Mit sarkastischen Einwürfen fällt sie ihrer Schwester ständig ins Wort. Die Aufzeichnung der wertvollen Aussagen dieser beiden Kuppeln wurde uns freundlicherweise von den Geheimdiensten zur Verfügung gestellt, denen wir an dieser Stelle – verständlicherweise ohne Nennung von Namen – danken möchten.
Die altehrwürdige Kuppel vom Gendarmenmarkt hingegen, Patronin der Hugenotten, der Gastarbeiter-Flüchtlinge vergangener Zeiten, hat, obwohl oder gerade weil sie schon diverse Revolutionen miterlebt hat, das Vertrauen in die Zukunft und die Jugend nicht verloren.
Die Kuppel von Tempelhof hat die Geburtsstunde der deutschen Luftfahrt, das Dritte Reich und die amerikanische Besatzung in den Nachkriegsjahren hautnah miterlebt. Nun setzt sie sich mit Vehemenz für den Erhalt der natürlichen Räume ein.
Die blutjunge Kuppel vom Reichstag verarbeitet Erfahrungen, die sie nicht selbst gemacht hat, denen sie sich jedoch zu stellen hat, will sie offen für die Zukunft sein.
Die Stimmen dieser lebhaften Zeitzeuginnen erzählen auf ganz eigene Weise von der Geschichte der Stadt. Zwischen der Unverrückbarkeit der Fakten und der Leichtigkeit der Fantasie, zwischen Scherzen und Wunden, zwischen Widerständen und Aufschwüngen führen sie uns durch ein Berlin, das sich in seiner Vielfältigkeit öffnet und unerwartete Perspektiven freigibt.
Übersetzt von Alberto Faussone