„Reichstagskuppel“ nennt man mich in Berlin und im Rest der Welt, weil nur wenige wissen, dass ich Clara heiße. Reichstagskuppel zu sein ist, damit wir uns richtig verstehen, mein Beruf.
Ich bin schön und jung – so sagt man jedenfalls – und ich versorge das Deutsche Parlament mit Licht, Luft und Energie. Millionen von Menschen lieben und bewundern mich: Im Grunde genommen bin ich glücklich.
Als Prinzessin der Demokratie bin ich zur Welt gekommen. Wer mir sagt, das höre sich merkwürdig an, dem entgegne ich, dass es nur eine Frage der Gewohnheit ist. Prinzessin der Demokratie klingt in jeder Sprache gut: Princess of Democracy, Princesse de la Democratie, Princesa da Democracia, Principessa della Democrazia… Ich bin so schön, dass ich den Betrachter blende. Ich empfehle Dir daher, eine Sonnenbrille zu tragen. Das ist kein Scherz. Solltest Du sie vergessen haben, kannst du sie bei Käfer kaufen, das Restaurant hier oben an meiner Seite. Sie ist das einzig Preiswerte, das man hier kaufen kann, und man benötigt sie unbedingt. Demokratische Sonnenbrille, fürstlicher Kaffee. Die Aussicht ist atemberaubend: Mit Deinen Blicken kannst Du von hier oben ganz Berlin umarmen: den Osten, den Westen, den Norden, den Süden. Aber nicht nur das! Du entdeckst auch den Nordosten, den Südosten, den Südwesten, den Nordwesten – alles im Umkreis, und alles zu unseren Füßen! Dreh dich, dreh dich rund herum! Um 360°!
Ich duze Dich, weil ich Engländerin bin. Wir Engländer sagen bekanntlich zu jedem Du. Aber mit Respekt, weißt Du, mit einem großen „D“, um nicht zu sagen mit einem riesigen „D“, 24 Meter hoch, genau so hoch, wie ich es bin. Einverstanden?
Engländerin bin ich, weil ich einen englischen Vater habe, den Architekten Sir Norman Forster, aber ich bin hier geboren und habe hier studiert.
Prinzessin der Demokratie zu sein ist der schönste Beruf der Welt. Schon als Kind wollte ich nichts anderes sein, weder Balletttänzerin, noch Lehrerin, noch Feuerwehrmann. Nichts anderes als Prinzessin der Demokratie. Es war mir vorherbestimmt. Eines Tages sagte ich zu meinem Vater: Papi, ich möchte Prinzessin der Demokratie werden. Er antwortete mir: Clara, du bist es bereits von Geburt, aber wenn du etwas Sinnvolles machen möchtest, studiere und erkenne dich selbst!
Ich hatte mir vorgestellt, auf die Universität zu gehen, Leute kennen zu lernen, aber es war nicht möglich. Leute triffst du schon genug, sagte er, versuche nur zu erkennen, wer du bist.
Seither habe ich mich wieder und wieder in den 360 Spiegeln des lichtleitenden Kegels betrachtet, die in 30 Reihen zu je 12 angeordnet sind. Ich habe wieder und wieder die 24 mich kleidenden Glasscheiben gezählt und mit den 17 Ebenen multipliziert, die sich auf mein Skelett stützen, bestehend aus 24 vertikalen, von der Basis bis zur Spitze reichenden Rippen in Dreiecksform und zusätzlich verstärkt durch 17 außenseitig angebrachte Stahlgewinde.
Ich habe 17 mit 24 multipliziert und herausgefunden, dass dabei 408 herauskommt.
Es sind also 408 Glasscheiben, mit denen ich ausgekleidet bin.
Um sicher zu gehen, habe ich noch Kinder auf einem Schulausflug gefragt.
Sie gerieten darüber ein wenig in Streit miteinander und beschimpften sich, am Ende aber war das Ergebnis für alle das Gleiche.
Die 17 Reihen überlagern sich spiralförmig. An der breitesten Stelle beträgt mein Durchmesser 40 Meter.
Der Raum zwischen zwei Reihen wurde im unteren Bereich offen gelassen, so dass ich atme und auch Du atmen kannst. Luft strömt ebenso durch die 8 Meter große Öffnung an meiner Spitze. Sie ist mit einem transparenten Netz bespannt, damit keine Vögel hineinfallen.
Ja, denn von überall kommen in Schwärmen alle möglichen Arten von Vögeln angeflogen, die sich nur allzu gerne hineinfallen ließen, um wenigstens einmal den berühmten Adler aus ionisiertem Aluminium mit eigenen Augen zu sehen. Er misst 58 m2, wiegt zweieinhalb Tonnen und wurde am 17. Dezember 1998 an Stahlseiten vor einer Glasfront im Plenarsaal aufgehängt. Hier oben twittert es von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang: Stimmt es, dass der Adler ein Drittel größer ist, als es die Fette Henne von Ludwig Gies in Bonn war? Es stimmt, es stimmt! Stimmt es, dass Forster den Adler schlanker wollte, er aber, nachdem er 180 Zeichnungen vorgelegt hatte, dem Wunsch des Bundestags nachgab? „Warum ein magerer Adler“, fragte man sich dort, „ist er etwa nervös?“. Es stimmt, es stimmt! Schau Dir den Adler am Platz der Luftbrücke an: Wie finster er dreinblickt! Das war ein richtiger Nazi-Adler! Jedesmal, wenn der Deutsche Adler mager gewesen ist, herrschte eine aggressive Stimmung vor, angefeuert vom Wunsch nach Expansion. Weißt Du das? Ich weiß, ich weiß! Stimmt es, dass er durch keine Tür passte und sie ihn in drei Einzelteilen hineintragen mussten? Es stimmt, es stimmt! Er wird doch nicht einem Buddha ähnlich sehen? Was redest du da für ein dummes Zeug? …Und so geht es weiter, den ganzen lieben langen Tag, jeden Tag, Sonntag mit eingeschlossen. Und dann sagen sie, die Vögel seien vom Aussterben bedroht. Sie sind alle hier! Wenn sie genug über den Adler getwittert haben, fangen sie an über Ökologie zu zwitschern.
Anfangs war es ihnen nicht ganz geheuer: Die Lerchen schickten die Krähen vor, um sicher zu gehen, dass es sich bei diesen ganzen Spiegeln nicht um eine gigantische Vogelfalle handelte. Als sich dann aber abzeichnete, dass diese Vorrichtung wohl eher der Umwelt diente, wurde an einem Frühlingstag eine regelrechte Vogel-Konferenz abgehalten, um der Sache ein für allemal auf den Grund zu gehen. Sich räuspernd meldete sich eine Schwalbe zu Wort: „In dem spiegelverkleideten Trichter versteckt sich eine Anlage zur Wärmerückgewinnung. Diese nutzt die thermische Energie der verbrauchten Warmluft, die aus dem Plenarsaal aufsteigt, und heizt damit das Gebäude.“ „Gütiger Himmel“, stieß eine Kohlmeise aus. Vom südlichen Dach antwortete eine Taube: „Hier gibt es eine 300m2 große Fotovoltaikanlage!“ Von weitem hörte man eine Amsel rufen: „Auch hier oben auf den Dächern des Paul Löbe und des Jakob Kaiser Hauses gibt es solche Anlagen!“ Die Schwalbe übernahm wieder das Wort: „Das Herzstück des ökologischen Projekts ist die zentrale Anlage der Kogeneration.“ „Kogeneration! Kogeneration!“ plapperte ein Papagei nach. An dieser Stelle ergriff ein junger Spatz, bestens informiert, das Wort: „Nach dem Prinzip der so genannten Kogeneration wird die bei der Erzeugung von Elektrizität entstehende Wärme zum Heizen der Parlamentsgebäude genutzt. Dank dieser Technik sind die Kraftwerke in der Lage, 50% des Stroms und 100% der für die Klimatisierung der Räume erforderlichen Wärme, bzw. Kälte zu erzeugen.“ Ein Specht präzisierte, die nicht genutzte Kogenerationswärme werde mittels einer Absorptionskältemaschine in Kaltluft umgewandelt, oder aber im Sommer als Warmwasser in einem natürlichen Reservoir in 300 Meter Tiefe gespeichert, um dann im Winter zur Verfügung zu stehen. „Genial!“, urteilte eine Amsel. „Also ist es wahr, dass sie intelligenter sind als wir!“, seufzte ein Rebhuhn lakonisch. „Wo denkst du hin?“, platzte eine verärgerte graue Krähe heraus, „Sie schauen sich das alles ab! So wie damals, als sie sich damit brüsteten, das Fliegen erfunden zu haben!“ „Ich habe gehört“, fiel ein Rotkehlchen ein, „dass sie in der Wüste ein Kamel ausspioniert haben, um dem Geheimnis seiner Thermoregulation auf die Schliche zu kommen und…“.
Und da begann ein Tuscheln um geheime Geschichten, das seither kein Ende gefunden hat.
Es ist eine Dauerveranstaltung, jeden Tag kommen und gehen Vögel in Schwärmen und informieren sich gegenseitig über Techniken und Anlagen, die saubere Energie nutzen und Energie sparen. Man müsse das im Auge behalten, sagen sie, und die Luftqualität einer ständigen Prüfung unterziehen. Sie folgen aufmerksam den Berichten des Adlers aus dem Plenarsaal, die von einer Taube nach Außen getragen werden. An manchen Tagen sind sie zufrieden, an anderen wiederum beunruhigt. Es ist eine unsichtbare Lobby, die Lobby der Vögel vom Reichstag, aber so gut organisiert, informiert und verantwortungsbewusst, dass sie gut als Vorbild dienen könnte für die Tauben vom Markusplatz, die Krähen der Tower Bridge, die Möwen der Sagrada Familia…
Aber wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, ich war dabei, Dir von mir zu erzählen.
In meinem Innern findest du zwei gegenüberliegende stählerne Rampen, die sich mit einer Neigung von 8% in Form einer Doppelhelix um meine Mittelachse winden. Die eine Rampe führt hinauf, die andere hinunter. 230 Meter beträgt der sensationelle Aufstieg, 230 Meter der wohltuende Abstieg. Man schwebt in Blau, Grau, Orange, Rosa, oder der Farbe, die der Himmel im jeweiligen Moment gerade hat. Auf dem Stahl laufen Deine Füße sicher und fühlen sich doch wunderbar leicht an. Dein Körper ist geschützt hinter der Glasfront, aber Dir, als bewegtest du Dich im freien Raum, während die Drehung der Helix Dich auf magische und natürliche Weise vorantreibt und in einen leichten Höhenrausch versetzt. Wie das geschehen kann, weiß ich nicht. Die Rampen wiegen zusammen ungefähr 800 Tonnen. Ich habe mir das noch nicht von den Kindern bestätigen lassen, aber die Angaben stimmen. Die Masse ist da, und doch spürt man sie nicht. Da sein oder nicht da sein. War es das, was mein Vater mir sagen wollte?
Wer bin ich? Warum existiere ich?
Eine Kuppel, wie ich es bin, über dem Deutschen Parlament, ist nicht nur schön, sondern auch Symbol der Transparenz, der Teilhabe und Souveränität des Volkes, dass sich, im wörtlichen Sinne, über seine Repräsentanten, die im Sitzungssaal in seinem Namen Entscheidungen treffen, erhebt und sie kontrolliert.
Das Volk steigt hinauf, ohne Eintritt dafür zu bezahlen. Oft stehen die Menschen in einer langen Schlange davor und warten auf Einlass – es sei denn, sie haben den Besuch vorher angemeldet oder einen Tisch im Restaurant Käfer vorbestellt. Aber sie können zu jeder Tageszeit zwischen 8 und 23 Uhr kommen, als wäre es ihr eigenes Haus. Ja, auf dem Architrav steht sogar geschrieben, dass es ihr Haus ist, für den Fall, dass es jemand vergessen haben sollte: DEM DEUTSCHEN VOLKE, schön groß in 60cm hohen Lettern, aus der Ferne auch für Kurzsichtige und Beschwipste gut lesbar. Man läuft schwerlich Gefahr, sich in der Hausnummer zu irren, und beispielsweise am Kanzleramt gegenüber zu klingeln.
Aber was für ein Parlament ist das, dessen Kuppel ich bin?
Es ist ein Parlament, das der Welt zeigen will, dass es einer glanzvollen, gerechten, ökologischen, demokratischen und toleranten Zukunft entgegensieht.
Es ist ein Parlament, dass Künstler als Mitglieder und Beobachter der Gesellschaft achtet und deren Gefühle und Gedanken berücksichtigt. Es ist ein Parlament, in dem das Schöne Symbol des moralisch Guten sein will. Es ist ein Parlament, das die Vergangenheit in Erinnerung behält.
Gleichwohl es sich um ein Parlament und nicht um eine Nationalgalerie mit moderner und zeitgenössischer Kunst handelt, ist die (vorwiegend deutsche) Kunst der letzten drei Jahrzehnte hier gut repräsentiert.
Am Haupteingang (Westeingangshalle) wird der Besucher von Gerhard Richters Werk „Schwarz, Rot, Gold“ in Empfang genommen. Sechs übereinander gereihte farbemaillierte Glasplatten bilden eine monumentale Vertikale von 21 Metern Höhe in den genannten Farben. Doch es verbirgt sich dahinter weit mehr als nur eine Anspielung auf die deutsche Fahne. Die Leichtigkeit und die Zerbrechlichkeit des Glases rufen ins Bewusstsein, wie zerbrechlich, aber auch schön, leuchtend und transparent die Demokratie ist. An der gegenüberliegenden Wand der Westeingangshalle fallen die brillanten und ironischen Leuchtkästen von Sigmar Polke ins Auge. Ändert man beim Betrachten der Bilder den Blickwinkel, scheinen sie in Bewegung zu geraten. Ein Effekt, der durch die Verwendung prismatischer Kunststoffe hervorgerufen wird. Vor der Abgeordnetenlobby auf Höhe der Besucherebene ist der „Aurora-Experimentalraum“ von Carlfriedrich Claus zu besichtigen, ein Werk in der Schwebe zwischen Poesie, Vorstellung und mystischer Philosophie. Der Reichstag beherbergt auch die Gedenkstätte für die verfolgten Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik der Künstlerin Katherina Sieverding: das beeindruckende Fotogemälde zeigt ein tödliches und zugleich reinigendes Feuer. Im so genannten Clubraum können die Abgeordneten über Grisha Bruskins Leben über alles sinnieren: 115 weiße, als Statuen stilisierte Figuren, angeordnet in fünf Reihen, versinnbildlichen Stereotypen und Gleichmacherei in der Ideologie des Sowjetregimes, mal auf ironische, mal auf traurige Weise. Es fehlt auch nicht an provokativer Avantgarde-Kunst aus den 30er Jahren, repräsentiert durch die Sculpture Architecturale von Otto Freundlich, der 1943 im Konzentrationslager Majdanek ermordet wurde. Georg Baselitz hingegen knüpft an den Romantizismus an, dessen Pathos und Emotion er transfiguriert. Im südlichen Innenhof vermitteln die Materialien der Skulpturen Ulrich Rückriems vorzeitliche Ursprünglichkeit. Und wem nach beten oder meditieren zumute ist, dem sei der mystische, interkonfessionelle Andachtsraum von Günther Ueckers empfohlen: Ein schlichter Altar, eine ebenso karge Einrichtung und an die Wände angelehnte Holzbildtafeln rufen den Gedanken an die Vergänglichkeit menschlichen Lebens wach. Und was bleibt zu sagen über das poetische und vergeistigte Werk Anselm Kiefers Nur mit Wind mit Zeit und mit Klang? In einem Empfangsraum ausgestellt führt es vor, wie alles, was uns heute als sicher gegeben erscheint, sich im Medium des Flüchtligen sowie in den partiellen und wechselnden Erfahrungen der Menschheit auflöst. Mit seinem Archiv der Deutschen Abgeordneten stellt Christian Boltanski Demokratie und Gleichheit dar. Wir können die Lebendigkeit der Farbgebung Strawaldes, die intensive Expressivität Walter Stoehrer und den Expressionismus Bernhard Heisigs bewundern, dessen großformatiges Gemälde Zeit und Leben in der Cafeteria ausgestellt ist, nebst einer großen Übersichtstafel zur Deutschen Geschichte.
(…) (eine halbe weitere Seite über Kunst, die man vielleicht weglassen könnte, zumal einige Werke für das Publikum gar nicht zugänglich sind. Anmerkung Alberto) (…)
Zwei grundverschiedene Welten, sollte man meinen, die aber gelernt haben,
zu koexistieren und sich gegenseitig zuzuhören.
Ohne Zweifel ist dies das schönste Parlament der Welt. (Ma come si nasce stinchi di santo e cupole lunminose?)
Gibt es ein Rezept, das wir verraten können, ein Abrakadabra der Schönheit, mit dem sich alle Parlamente in wunderbare Schöpfungen verzaubern lassen?
Betrachtet man das außen wie innen durch und durch gelungene Gebäude des Reichstags mit seinen klaren Grundzügen, ist man geneigt, zu glauben, Schönheit sei etwas Einfaches. Tatsächlich aber ist das, was sich unserem Auge darbietet, das Ergebnis eines überaus langwierigen, arbeitsreichen Prozesses, an dem viele Menschen mitgewirkt haben. Der Bau unseres Parlaments war mit ebenso vielen Mühen verbunden, wie der Aufbau unseres Parlamentarismus. Und als dieser den Todesstoß erhielt, wurde jenes in Brand gesetzt, um danach von Bomben zerstört und zu guter letzt wieder aufgebaut zu werden. Es brauchte jahrzehntelange Vorbereitungen, unzählige Diskussionen waren notwendig, um es aus der Asche neu erstehen und zu dem werden zu lassen, was es heute ist.
Was aber ist der Parlamentarismus? Das ist eine grundlegende Frage, denn für was sollte das Parlament gut sein, ohne Parlamentarismus? Wilhelm II., der störrische Auftraggeber dieses Gebäudes, behauptete, der Parlamentarismus sei nur etwas für Frauen oder für Franzosen, während die mannhaften Deutschen sich eher zum Antiparlamentarismus hingezogen fühlten. Lässt man Hitlers diesbezügliche Auslassungen aus „Mein Kampf“ von 1925 einmal außer Acht, so steht doch außer Frage, dass eine gewisse Abneigung gegenüber dem Parlamentarismus lange Zeit stärker war, als man es sich vorstellen kann.
Der autoritäre preußische Militarismus und in seiner Folge der Nationalsozialismus und der Kommunismus waren alles andere, als vom Geist der Demokratie beseelt.
Doch trotz dieser Abneigung, wurde das Parlament gebaut. Aber was für eine Anstrengung! Am 9. Juni 1884 wurde der erste Spatenstich gesetzt, die Bauarbeiten gestalteten sich von Anfang an schwierig. Die Fundamentlegung bereitete Probleme: Der sandige Untergrund gab nach, die Arbeiter streikten, und man darf nicht vergessen, dass die technischen Möglichkeiten jener Zeit begrenzt waren. Für den Transport der Baumaterialien wurden größtenteils Zugpferde eingesetzt. Wenn ich dir sagen würde, dass allein die Errichtung des Rohbaus 8 Jahre in Anspruch nahm, 2 Jahre länger als geplant, beeindruckt Dich das weniger, als wenn ich Dir sagen würde, dass von 1884 bis 1891 zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter Massen von Arbeitern auf der gigantischen Baustelle im Einsatz waren. Einige von ihnen, meist junge Männer, kamen bei Stürzen vom Gerüst ums Leben, wie Gaetano Negri, Otto Keller, Ernst Giersch…
Kennst Du Bertolt Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters? Da wird gefragt: Wer baute die Sieben Tore zu Theben? In den Büchern stehen die Namen der Könige. Aber haben die Könige die Steinblöcke gezogen? Babylon wurde mehrmals zerstört, wer hat es jedes Mal wieder aufgebaut?
Also, stell Dir diese Vielzahl an Arbeitern vor.
Der leitende Architekt des Reichstags hieß Paul Wallot und war hugenottischer Abstammung. Seine Zeitgenossen beschreiben ihn als einen Mann von außerordentlicher Intelligenz, Energie und Humor, ausgestattet mit der Fähigkeit, allen Widrigkeiten zu trotzen. Diese letzte Eigenschaft kam ihm besonders im Verhältnis zu seinem Dienstherrn, dem Kaiser, zugute. Eine gewisse dialektische Spannung zwischen Auftraggeber und ausführendem Architekten ist nachvollziehbar, liegt sie doch in der Natur der Sache. Die Kunstgeschichte ist auch die Geschichte unzähliger Magengeschwüre, reaktiver Depressionen und Gallenkoliken, aber hier wohnen wir einem wirklichen Duell und Schlagabtausch zwischen Wallot und Kaiser Wilhelm II. bei.
Zu Beginn der Bauarbeiten 1884 herrschte noch Wilhelm I., der bis zu seinem Tod 1888 Vorbehalte gegen das Projekt hegte. Nach dem kurzen Intermezzo der Regentschaft des schwerkranken Friedrich III., übernahm Wilhelm II. die Thronfolge. Dieser erbte von Wilhelm I. auch dessen kritische Haltung, er brillierte fortan in seiner Rolle als mürrischer Konservativer.
Der Herrscher trug Sorge, die Kontrolle über seinen absolutistischen Staat zu wahren und die Macht seines Reichs zu mehren. In Sachen Kunst und Kultur hielt er sich an die Tradition. Der Kaiser bestimmte – die Untertanen gehorchten. In der Geschichte mit Wallot aber bahnte sich Neues seinen Weg.
Die Rolle des Architekten war es laut Wallot zum einen, die verschiedenen am Bau beteiligten Gewerke zu koordinieren. Auf der anderen Seite fühlte er sich selbst dem Traum, dem Ideal, der Sonne und dem Paradies verpflichtet. Seine Inspiration war derart groß, dass er Reglements seines Bauherrn nicht akzeptieren wollte.
Er träumte davon, hier nicht eine in Mauerwerk ausgeführte Kuppel zu errichten, sondern eine moderne Kuppel aus Glas und Stahl, die die Synthese der schönen Künste bilden sollte. Dem Kaiser jedoch missfiel die Wahl der Materialien.
Am meisten störte ihn, dass die Reichstagskuppel mit einer Höhe von 75 Metern fünf Meter höher als die Kuppel seines Stadtschlosses und 6 Meter höher als die Siegessäule ausfallen sollte. Zwischen 1891 und 1893, als die Kuppel gebaut und die Innenräume langsam eingerichtet wurden, nahmen die Spannungen zwischen dem Architekten und seinem Auftraggeber, dem Kaiser, merklich zu.
Während eines Romaufenthalts im April 1893 ließ Wilhelm II. verlautbaren, der Reichstag mit seiner Kuppel stelle für ihn den Gipfel der Geschmacklosigkeit dar. Zuvor hatte er im selben Zusammenhang von einem „Affenhaus“ gesprochen.
Wallot schrieb diese Äußerungen dem Einfluss Begas zu, einem Künstler klassischer und neobarocker Ausrichtung. Mit dieser Mutmaßung handelte er sich prompt eine Anzeige wegen Majestätsbeleidigung ein.
Es erfolgten Solidaritätsbekundungen für Wallot – zunächst seitens der römischen Künstler, später aus der ganzen Welt. Zugleich zeigte man sich besorgt über den diplomatischen Schaden, den der Kaiser verursacht hatte.
Wallot wurde zum Ehrenmitglied verschiedenster Architektenvereinigungen ernannt, dennoch hielt er es für ratsam, Berlin im Oktober 1894 zu verlassen, um in Dresden zu arbeiten. Am 5. Dezember 1894 wurde der Reichstag mit einer Militärparade eingeweiht. Kein Wort des Kaisers über Wallot, geschweige denn eine Danksagung. Der Parlamentspräsident, Albert von Levetzow, lud die Abgeordneten zu einem Empfang ins Restaurant. Die Stenographinnen bat er, die Einladung nicht ins Protokoll mit aufzunehmen. Der Empfang zog sich, von einem Prosit zum nächsten, bis in die Morgenstunden hin.
Am 7. Dezember fand die Veranstaltung für die am Bau Beteiligten statt: 600 Gäste kamen, darunter Ingenieure, Architekten, Maler, Bildhauer.
Nicht nur der Kaiser, auch die Presse, einige Intellektuelle und die öffentliche Meinung lehnten Wallots Vorschlag einhellig ab, das Reichstagsgebäude dem Deutschen Volk zu widmen und eine entsprechende Inschrift auf dem Architrav zwischen den 6 mächtigen Säulen und dem Tympanon anzubringen.
Der Frankfurter „Generalanzeiger“ schrieb im Januar 1875, Schriftzüge machten sich wohl an Läden und Geschäften gut… aber an einem Parlament doch nicht!
Erst 1916 stimmte Wilhelm II., wenn auch zähneknirschend, der Anbringung der Inschrift zu. Es ging ihm vor allem darum, die Bevölkerung in jenem verhängnisvollen Jahr bei Laune zu halten: Der Krieg, der eigentlich kurz und siegreich hätte sein sollen, entwickelte sich zum Desaster.
Aber was geschah im Parlament nach der Einweihungsfeier? 1895 begannen Gustav Schönleber und Eugen Bracht mit der Bemalung der Innenräume. Infolge gesellte sich Angelo Jank mit seinen berühmten historischen Gemälden hinzu. Statt allerdings ein parlamentarisches Thema zu wählen, entschied er sich dafür, die Schlacht von Sedan darzustellen. Eine Ohrfeige für Frankreich. Jank wurde für sein gewähltes Thema und dessen Ausführung heftig kritisiert. War es vielleicht möglich, dass er sich nicht von antifranzösischen Ressentiments lösen konnte? Ja, so war es.
Es war das Jahr 1908. Der Sitzungssaal wurde vollständig mit Holzpaneelen ausgekleidet, um die Akustik zu verbessern. Über den Köpfen der Abgeordneten wurde ein schwerer Kronleuchter von 8 Meter Umfang aufgehängt.
Jetzt, wo der Reichstag fertiggestellt war – dieses steinerne Gebäude in Renaissance-, palladinisch-protobarrockem Stil mit der modernen rechteckigen Kuppel aus Glas und Stahl -, wollte man nun den Vorplatz gestalten.
In der Tat wirkte das neue Gebäude auf dem 11 Hektar großen Wiesengelände, das sich Königsplatz nannte, ziemlich verloren. Man machte sich wenig Hoffnung, dass es gelingen könnte, es in dieser endlosen Weite zur Geltung zu bringen. Da entschied Wallot, die Fläche durch die Anpflanzung von Bäumen aufzuteilen. Und so geschah es. Sicher, es war nicht eine Aufwertung, wie sie der Petersdom durch die Säulengänge Berninis erfahren hatte, aber es war immerhin ein Anfang.
Als 1898 Bismarck starb, wurde beschlossen, ihm eine Statue vor dem Reichstag zu errichten. Zwei Jahre lang debattierte man darüber, welche Materialien zu nutzen seien, welche Position die Figur einzunehmen hätte, welche Kleidung, militärische oder bürgerliche, angemessen sei, und ob er den Hut auf dem Kopf tragen oder doch besser in den Händen halten sollte… Am Ende erhielt Reinhold Bagas den Zuschlag, die Statue zu entwerfen.
Der weite Vorplatz des Reichstags, der trotz der monumentalen Bismarckstatue und der Baumreihen noch immer leer wirkte, bot sich unmittelbar darauf der Geschichte als Bühne an. Und diese nahm gierig davon Besitz.
Am 2. August 1914 war der Platz mit Volksmassen gefüllt, die den Kriegseintritt bejubelten. Weihnachten 1916 wurden sie zum Trost für die vielen Kriegsopfer mit der Widmung beschenkt: DEM DEUTSCHEN VOLKE.
Am 28. Oktober 1918 wurde auf dem Platz gegen Bürgerliche und Liberale Stimmung gemacht, die für jedes Übel verantwortlich gemacht wurden. Im Restaurant des Reichstags saßen am Mittag des 9. Novembers 1918 gegen 2 Uhr, – da sie einander nicht ausstehen konnten, an zwei voneinander getrennten Tischen – die beiden sozialdemokratischen Parteigenossen und Kriegsbefürworter Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann und aßen ihre Kartoffelsuppe.
Draußen heulte die Menge, jemand musste sie beruhigen. Da Ebert nicht hinaus wollte, trat Scheidemann ans Fenster des Lesesaals und verkündete: „Arbeiter und Soldaten! Der missglückte Krieg ist vorbei! Der Kaiser hat abgedankt! Er und seine Gefährten haben sich aus dem Staub gemacht. Der Prinz von Baden hat die Leitung der Reichsversammlung dem Abgeordneten Friedrich Ebert übergeben. Unser Freund wird eine Arbeiterregierung bilden. Das Alte und das Faule, die Monarchie sind gestürzt. Es lebe das Neue! Es lebe die Republik!“
Drinnen wetterte Ebert über die eigenmächtige Entscheidung seines Parteigenossen, die Republik auszurufen. Nach seiner Auffassung sollte in einer konstituierenden Versammlung über das weitere Schicksal Deutschlands entschieden werden, und seine Hoffnungen richteten sich klar auf das Fortbestehen der Monarchie.
Der Kaiser dankte dann tatsächlich ab, wenn auch erst am 28. November 1918. Friedrich Ebert wurde am 13. Februar 1919 in Weimar zum Reichspräsidenten gewählt. Philipp Scheidemann übernahm das Kanzleramt.
In den folgenden drei Monaten war der Reichstag vom Militär besetzt. Alles, was einen Wert besaß, verschwand: die Seidenvorhänge, die Lederstühle (im Wert von 2.500 Mark das Stück), die Kronleuchter… Was übrig blieb, wurde beschmutzt und beschädigt. Im April wurde der Reichstag geräumt und gereinigt, aber es waren schwierige Zeiten, bald kamen erneut Eindringlinge. Die Stimmung war wirklich sehr angespannt. Aufstände und Gewalttaten lösten einander ab, die Menschen waren erschüttert.
Am 24. Juni 1922 fand das Staatsbegräbnis des ehemaligen Ministers Walter Rathenau statt, der bei einem Attentat ums Leben gekommen war. Gespielt wurde Beethovens Ouvertüre zum Coriolan, die passende Musik zum Anlass: Ein dramatisches Crescendo, ein Ringen um Harmonie, ein Appell, der blinden Gewalt abzuschwören, überwältigt vom Lauf eines schrecklichen Schicksals.
Am 28. Februar 1925 starb Friedrich Ebert und am 16. April wurde General Paul von Hindenburg, auch er ein Monarchist, zum neuen Reichspräsidenten gewählt. Ein Kuriosum, dass die beiden ersten Präsidenten der Republik im Grunde ihres Herzens der Monarchie anhingen – wie auch immer, ihrem republikanischen Eid blieben sie treu.
Begleitet von Bombenattentaten und Hassgesängen wurden am 31. Juli 1932 die Wahlen abgehalten, aus denen die NSDAP mit 230 Sitzen als stärkste Partei hervorging, während 130 Sitze an die Sozialisten gingen, 89 an die Kommunisten und 85 an die Zentrumspartei.
Am 6. Dezember 1932 wurde Herrmann Göring zum Parlamentspräsidenten gewählt. Weitere Gewalttaten und Zusammenstöße folgten.
Am 1. Februar 1933 wurde das Parlament aufgelöst. Am 27. Februar, zwischen 21 Uhr und 22:30 Uhr, brannte der Reichstag. Der Brandstiftung wurde ein niederländischer Anarchist, Marinus van der Lubbe, bezichtigt. Nach einem Schauprozess, einer regelrechten Abrechnung mit dem Kommunismus, wurde er noch im selben Jahr verurteilt und hingerichtet. Untersuchungen, wonach das Feuer von innen gelegt worden sei, sowie andere Ungereimtheiten deuten daraufhin, dass es die Nationalsozialisten selbst gewesen waren, die auch sonst alles taten, um ein Klima des Terrors zu erzeugen. Nicht der gesamte Reichstag brannte, sondern „nur“ der Plenarsaal und einige angrenzende Räume. Die Bibliothek, das Grundbuchamt und die Ratskammer waren noch nutzbar. Über den Reichstagsbrand wurden Dutzende von Büchern und hunderte von Artikel geschrieben, das Thema lag den Gründern der DDR und den Linksintellektuellen besonders am Herzen.
Hitler gelangte am 30. Januar 1934 an die Macht.
Wie nutzte Hitler den Reichstag? Er ließ den abgebrannten Teil wieder aufbauen, die Bücher und Ornamente entfernen, und erhielt so einen großen Bunker. Die noch verbliebenen Bronzeleuchter wurden zum Einschmelzen nach Hamburg verschickt, die Bismarck-Statue an den Großen Stern im Tierpark versetzt. Geplant war, das Reichstagsgebäude in das ehrgeizige Projekt zum Bau der neuen Hauptstadt Germania einzubinden, für das der Architekt Albert Speer verantwortlich war. Zwei Ausstellungen fanden in dieser Zeit im Reichstag statt: Der Bolschewismus ohne Maske, vom 6. November bis 19. Dezember 1937, sowie Der ewige Jude, vom 12. November bis 14. Januar 1939.
Die Nationalsozialisten hielten ihre Sitzungen in der Kroll-Oper ab, sie nutzten das Reichstagsgebäude nicht als Versammlungsstätte, auch wurden ihre schlimmsten Gesetze nicht hier erlassen. Dennoch war den Alliierten der Reichstag ein verhasstes Symbol, das es zu zerstören galt. Was sie dann auch taten.
In den letzten Kriegsmonaten, als Berlin heftig bombardiert wurde, versuchte man die Bücher zu retten. Ein Teil wurde ins Schloss Bellevue gebracht, das jedoch im Februar 1945 von Bomben getroffen wurde, der andere Teil in ein Lagerhaus in der Weinmeisterstraße, das wiederum bei einem Überraschungsangriff am 2. Mai 1945, in den letzten Kriegstagen, zerstört wurde. Allein hier verbrannten 400.000 Bücher. Die ca. 8.000 Bücher, die noch gerettet werden konnten, wurden später von den Antiquariaten der DDR in alle Welt verkauft. Am Reichstag endete der Krieg am 29. oder 30. April – das Foto lässt sich nicht genau datieren -, als zwei sowjetische Soldaten die Rote Fahne auf dem Dach hissten.
Die Fahne wehte dort oben bis zum 20. Mai. Dann wurde sie in einer militärischen Zeremonie eingeholt und ins Militärmuseum von Moskau gebracht.
In diesem Moment wurde am Reichstag, und nicht nur dort, die Stunde Null eingeläutet. Wie im Fegefeuer irrten vereinzelte Seelen verloren über den Platz. Mit dem Unterschied, dass im Fegefeuer die Seelen nicht Hunger leiden und mit Zigaretten handeln und immerhin einen Glauben haben. Von den 1945 verbliebenen 2.300.000 Einwohnern Berlins verkehrten nicht wenige täglich auf dem Platz, um hier auf dem Schwarzmarkt Handel zu treiben, Kartoffeln zu züchten oder einfach nur die letzten Neuigkeiten auszutauschen.
Die existenziellen Sorgen verdrängten die Alltagssorgen und das Schicksal des Reichstags rückte in jenen Monaten in den Hintergrund. Zu Beginn des Jahres 1947 war man drauf und dran, das Gebäude abzureißen. Dann wurde Berlin in die berühmten vier Sektoren aufgeteilt und der charismatische Ernst Reuter am 17. April 1947 zum Regierenden Bürgermeister der drei Westsektoren Berlins gewählt. Am 31. März 1948 wurde der Königsplatz in Platz der Republik umbenannt. Am 9. September desselben Jahres fanden sich hier 350.000 Menschen ein, um gegen die Blockade seitens der Sowjetbesatzer und die Aufteilung der Stadt in vier Besatzungszonen zu protestieren.
Ernst Reuter hielt hier seine berühmte, ermutigende Rede an die Bürger der Stadt: „Ihr Völker der Welt … schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft, nicht preisgeben könnt“. Am 1. Mai 1949 setzte sich Jakob Kaiser, ehemaliger Widerstandskämpfer und Gründungsmitglied der CDU, in einer Rede auf dem Platz für den Wiederaufbau des Reichstags ein. Am 30. September desselben Jahres wurde auf Betreiben der SPD mit großer Mehrheit vereinbart, Berlin als demokratischen Vorposten Deutschlands zu erachten, und in Zukunft wieder die Rolle als Hauptstadt zuzuweisen. So war die Stimmung schon im Jahre 1949: Bonn wurde als Hauptstadt auf Zeit angesehen. Als in Ost-Berlin das Schloss abgerissen wurde, beeilte man sich festzulegen, dass der Reichstag dem Deutschen Staat und nicht der Stadt Berlin unterstehe, und jede seine Zukunft betreffende Entscheidung von zentraler, staatlicher Stelle aus zu treffen sei. Am 27. Mai wurde die Krolloper abgerissen, Sitz des Nazi-Parlaments. Im August 1952 wurde der spannende Spionagefilm Die Spur führt nach Berlin gedreht. Dem Regisseur wurden nur Aufnahmen an der Nordseite des Reichtags gestattet, da die Kuppel in einem Gutachten als einsturzgefährdet eingestuft und für den Abriss freigegeben worden war. Nach umfangreichen Vorbereitungen war der Abriss der Kuppel für den 23. Oktober 1954 vorgesehen. Die Ostberliner Polizei wurde informiert, da man sich in unmittelbarer Nähe zur Grenze befand. Die Arbeiten in 70 Metern Höhe gestalteten sich schwierig, die Witterung war kühl und feucht. Die Feuchtigkeit verhinderte, dass das Feuer vollständig entfacht werden konnte, und die Kälte ließ das Metall, das zum Schmelzen gebracht werden sollte, vorzeitig wieder hart werden. Und so mussten die Abrissarbeiten am 22. November wiederholt werden. Am 1. Mai 1952 hatte sich Theodor Heuss erstmals als Bundespräsident zu Wort gemeldet: „Wir alle leben und arbeiten dafür, dass dieses Haus dereinst wieder zur Schmiede der deutschen Zukunft werde.“ Der Reichstag galt als Symbol für die Erneuerung und den Wiederaufbau Deutschlands. Dennoch war noch nicht ganz klar, welche Rolle ihm zugewiesen werden würde: Sollte es ein Denkmal sein, oder erneut Sitz des Parlaments? Am 26. Oktober 1956 wurde der Vorschlag der SPD diskutiert, einen mit 60.000 Mark dotierten Wettbewerb zur Neugestaltung des Reichstags auszuschreiben. Willy Brandt galt als glühender Verfechter der Idee. Sofort wurden 2,5 Millionen Mark für die Sicherung des Gebäudes und die Räumung des Bauschutts bereitgestellt. 500.000 Mark stammten aus dem Haushalt des Jahres 1956, während die restlichen 2 Millionen dem Haushalt des nachfolgenden Jahres entnommen wurden.
1958 wurde die Fassade von sämtlichen Ornamenten befreit und erneuert. Man wartete die Reaktionen ab, die aber nicht allzu kritisch ausfielen. Natürlich gab es vereinzelte Stimmen, die besagten, Wallot hätte es nicht so gewollt. Aber es überwog die Zustimmung für eine Neugestaltung. Am 12. Mai 1960 dann startete der Wettbewerb zur Rekonstruktion des Reichstags, als Symbol des Parlaments und der Macht der Demokratie. Der Zeitgeist legte den Akzent auf die Frage nach den Werten, mehr als auf ästhetische Fragen. In seinem umfangreichen Werk Der Reichstag, Parlament – Denkmal – Symbol beschreibt Michael S. Cullen die Schwierigkeit, Gelder für die Neugestaltung des Reichstags zu sammeln. Wurde über Wallot viel geschrieben, so schweigt man sich über den zurückhaltenden Architekten Paul Baumgarten aus. Die Zeit war noch nicht wirklich reif für eine Neugestaltung des Parlaments, das sich in Berlin wiedervereinen sollte. Und die Arbeiten wurden, wenn nicht im Geheimen, so doch unter Wahrung einer gewissen Diskretion, vorangetrieben. Die DDR war, wie man sich leicht vorstellen kann, strikt gegen das Projekt.
Als dann am 31. Dezember 1969 der fertig gestellte Plenarsaal übergeben wurde, wohl wissend, dass dieser in absehbarer Zeit nicht genutzt werden würde, wirkte das Gebäude eigentümlich leer, wie in Erwartung von etwas, das noch kommen sollte. Anlässlich des 100. Jahrestages der ersten Parlamentsversammlung wurde am 21. März 1971 die Ausstellung Fragen an die Deutsche Geschichte, Wege – Irrwege – Umwege eröffnet. Es kamen 10 Millionen Besucher. 1994 wurde sie in den Deutschen Dom am Gendarmenmarkt verlegt, wo sie heute noch zu sehen ist. Der Zustand des Wartens ist mitunter unangenehm. Aber der Reichstag – die „Nachkriegs-Penelope“ behielt die Nerven und verstand es, abzuwarten. 20 Jahre lang. Währenddessen webte sie das Tuch und löste es zuweilen wieder auf. Hauptsächlich aber webte sie es.
Vom 27. Juni bis 7. Juli präsentierte sich die „Reichstagspenelope“ in ihrem neuen Tuch aus Propylen und Aluminium während eines rauschenden Fests der Freude und des Friedens – ein deutsches Woodstock mit 5 Millionen Besuchern – anlässlich der Rückkehr ihres „Bundestagsodysseus“ nach „Itaka-Berlin“.
Aber was war in den 20 Jahren zuvor geschehen? Man übte sich in Demokratie, in gewisser Weise war es eine wirkliche Initiationsreise ähnlich den Irrfahrten des Odysseus, bestehend aus aufreibenden Debatten und Diskussionen, mit dem Ziel, geduldig Schritt für Schritt die Idee von Deutschland zu restaurieren. Da das Parlament als der demokratische Ort schlechthin gilt, erlangten alle Entscheidung, die es betrafen, in den Augen der Deutschen und der Welt einen symbolischen Charakter.
Wir sind in den zähen 70er und 80er Jahren, wo es Deutschland und Berlin in zweifacher Ausführung gab, und in den sich überstürzenden 90er Jahren, als man sich plötzlich gezwungen sah, den gesamten bürokratischen Apparat in die neue alte Hauptstadt zu verlegen. Die Vorbereitungen zur Erneuerung des Parlaments wurden weltweit mit Interesse verfolgt, als M. S. Cullen, der große Reichstagsbibliograf, 1971 mit der Idee an die Öffentlichkeit trat, den Reichstag zum Objekt einer spektakulären Kunstaktion zu machen. Er sprach das Künstlerehepaar Christo und Jean-Claude an, die bereits mit zahlreichen Verhüllungen von Gebäuden und Kunstwerken auf sich aufmerksam gemacht hatten, und schlug ihnen vor, den Reichstag zu verpacken. Die Künstler waren nicht abgeneigt, das Projekt aber war überaus ambitioniert und bedurfte einer breiten Zustimmung. 1976 sprach sich die Bundestagspräsidentin Annemarie Renger für das Projekt aus, das ein Jahr später jedoch vom zukünftigen Bundespräsidenten Karl Carstens auf Eis gelegt wurde. Erst der Regierende Bürgermeister von Berlin Dietrich Stobbe brachte es zurück auf die Tagesordnung, wo es sich ab 1982 wachsender Zustimmung erfreute. Der damalige Bundestagspräsident Reiner Barzel sowie auch Richard von Weizsäcker, Regierender Bürgermeister von Berlin und späterer Bundespräsident, trieben die Diskussion voran. 1985 wurde in Paris der Pont Neuf von Christo und Jean-Claude mit sensationellem Erfolg verhüllt, was die Zweifler in Deutschland mehr und mehr verstummen ließ. Nach der Wiedervereinigung setzte sich die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth am 9. Februar 1992 definitiv mit den Künstlern in Verbindung. Im Februar 1994 versuchten die Fraktionen von CDU/CSU und der FDP das Projekt im Bundestag noch einmal zu kippen, jedoch ohne Erfolg. „Wir sind bereit“, verkündeten die Künstler, „die Aktion wird einen Monat vor Beginn des Wiederaufbaus stattfinden“. Nach einer weiteren Wartezeit konnten sie dann endlich die 100.000 m2 Stoff auf dem Reichstag anbringen, der vom 27. Juni bis 7. Juli 1995 verhüllt blieb. 24 Jahre hatte es gedauert, die Idee zu verwirklichen. 96 von 100 Deutschen haben das Bild vom verpackten Reichstag gesehen, und 5 Millionen Besucher können von sich sagen: „Ich war dabei!“
Wichtiger noch als die Reichstagsverhüllung waren die Ereignisse rund um die Wiedervereinigung. Auf dem Platz der Republik wurde mit unendlicher Ausgelassenheit gefeiert. Am 4. Oktober 1990 versammelte sich der Bundestag seit 57 Jahren erstmals wieder im Reichstag, wo man sich zuletzt am 9. Dezember 1932 versammelt hatte. Schwer zu beschreiben, die Glücksgefühle jener Zeit. Als am 16. Oktober 1992 Willy Brandt beerdigt wurde, mischte sich unter die allgemeine Trauer im Plenarsaal auch das Bewusstsein, am Ende eines langen Weges angekommen zu sein und etwas vollbracht zu haben, dass es erlaubte, zuversichtlich in die Zukunft zu schauen.
Wie mutet der neue Reichstag nun an, der sich hier unter mir befindet? In erster Linie ist es ein funktionales Gebäude – zeitgemäße Materialien und eine ebensolche Ausstattung erfüllen die Anforderungen einer modernen Versammlungsortes –, und doch auch von starker ästhetischer Wirkung. Es ist eine effiziente Schönheit, die sich aus der Vergangenheit speist, um den weiteren Weg besser erkennen zu können.
Du, Besucher, trittst durch den Haupteingang an der Westseite ein, während sich der Eingang für die Abgeordneten an der Ostseite befindet, mit dem Auto leicht zu erreichen. Du, Bevölkerung, kannst die Treppe bis zum Zwischengeschoss hinaufgehen, wo filigrane Edelstahl-Stiegen in Kontrast zum beeindruckenden Mauergewölbe stehen. Mein Vater hat sämtliche Holzpaneelen entfernen lassen, mit denen Baumgarten die Innenräume verkleidet hatte. In den 60er Jahren wollte man den Krieg vergessen, jetzt aber stellt man sich der Vergangenheit. Freigelegt sind die Dutzenden Sprüche in kyrillischer Schrift, von den Soldaten der siegreichen Roten Armee im Frühling 1945 verfasst, sowie die unzähligen Einschusslöcher. Vom Zwischengeschoss aus, von dem sich die dunkelgrünen Türen abheben, kannst Du, Bevölkerung, durch die Glasscheiben auf die Nacken Deiner Repräsentanten blicken, während sie im Plenarsaal debattieren. Die Sessel dort sind in einer Halbellipse angeordnet – eine besondere Form, die weder offen noch geschlossen und in anderen berühmten Parlamenten nicht zu finden ist – und blicken auf die Sesselriege der Regierungsmitglieder, des Bundesrates, des Bundestagspräsidenten und des parlamentarischen Kommissars der Streitkräfte. Hinter den Sesselreihen der Abgeordneten verlaufen die Galerien für die Besucher und die Presse. Das Herz der deutschen Demokratie offenbart sich Dir auf 1200 m2 malgenommen mit den 24 Metern Höhe der grauen Wände mit grauen schallschluckenden Aufsätzen, mit 12 schmalen mit Leuchten versehenen Säulen, mit grauem Rednerpult, grauem Schreibpult für die Stenotypisten und grauem Teppich, vor denen die Sessel von einem ganz besonderen Blau, das zum Violett neigt, eindrucksvoll zur Geltung kommen. Unter den Sitzen ist eine Feuerschutzanlage installiert. Und unter dem Teppich befindet sich, ob Du es glaubst oder nicht, kein normaler Fußboden, sondern eine Stahlkonstruktion mit aufmontiertem Metallnetz, aus dem Frischluft von Außen strömt, während die verbrauchte Luft sich im lichtleitenden Trichter sammelt und aus der Öffnung an meinem Kopf entweicht. Auch der Luftaustausch wird also von Unter nach Oben organisiert – wenn das nicht demokratisch ist.
Auf der Ebene des Plenarsaals sind die Lobbies, die Säle, das Bistrot, die Bar, das Restaurant, die Kapelle zum Beten und zum Meditieren und die Bibliothek. Hier sind die Türen alle blau.
Ein Stockwerk höher befinden sich hinter leuchtend bordeauxroten Türen der Sitzungssaal des Ältestenrates, der Protokollsaal und die Präsidentschaftsräume. Hier sind die Räume großzügiger, die Zeit verlangsamt sich, während die gläserne Wand im Zentrum einen Blick auf den darunter liegenden Plenarsaal erlaubt. Im dritten Stockwerk sind die vier Türme, jeder von ihnen einer parlamentarischen Gruppe zugewiesen. Und dann gibt es Höfe und Terrassen. Für das Funktionieren unserer rührigen Demokratie aber reicht der Platz im Reichstag bei weitem nicht aus, daher gibt es im benachbarten Paul Loebe Haus 510 Arbeitsräume für die Abgeordneten, 450 Büros für die Kommissionssekretariate sowie die dazugehörigen zweigeschossigen Säle, untergebracht in 8 Rotunden. Im nahe gelegenen Elisabeth-Lüders-Haus hat das Wissen des Parlaments seinen Sitz: Archiv, Bibliothek, Pressedokumentation, wissenschaftliche Dienste, aber auch der Saal der Zeitgenössischen Kunst, wo Ausstellungen zu politischen Themen gezeigt werden. Das Jakob-Kaiser-Haus beherbergt weitere Büros, Fernsehstudios, das Pressebüro, stenografische Räume, Sitzungssäle für die Forschungskommissionen…
Und nun kommt für mich, Clara, ein schwieriger Moment. Als mein Vater mich ermunterte, mich selbst zu erkennen, dachte ich, ein Blick in die Spiegel des lichtleitenden Kegels würde genügen. Von persönlicher Neugier getrieben, habe ich begonnen, die Geschichte zu studieren. Aber davon, was vor meiner Geburt geschehen war, hatte mir niemand etwas erzählt. Aus Scham vielleicht, oder um meine Pubertät nicht mit existenziellen Problemen zu belasten. 1992 und 1993 wurde viel über das Für und Wider des Wiederaufbaus einer Kuppel diskutiert. CDU und CSU befürworteten eine getreue Rekonstruktion der historischen Kuppel aus stilistischen Gründen, wie sie betonten, und nicht um ein politisches Signal der Restauration zu setzen. Andere sprachen sich gegen eine Kuppel aus, wieder andere lehnten das gesamte Gebäude ab.
Im Februar 1994 stellt mein Vater mit seinem Architekturbüro, an das Dutzende anderer Architekten angeschlossen sind, den Plan für eine ganz neuartige Kuppel vor. Die historische Kuppel wieder aufzubauen, lehnt er ab, da in ihr zu viel Raum und Energie verschwendet werde. Stattdessen propagiert er eine leichte, schwebende Struktur über dem Gebäude, mit beweglichen Lamellen. Er lanciert seine großartige Idee des Licht und Energie leitenden Konus. Er sei wohl verrückt, lautet die Antwort, noch nie habe man etwas derartiges auf einem Parlamentsgebäude gesehen. Also fährt mein Vater fort, andere Kuppelprojekte zu präsentieren, mit dem Ziel, deren Unausführbarkeit zu beweisen: Sie sind zu schwer, behindern die Nutzung der unteren Geschosse, nehmen Licht weg…
Und er beschließt, keine Kuppel zu bauen. Man solle in die Zukunft schauen, statt Vergangenes wieder aufleben zu lassen. Oscar Schneider, ehemaliger Städtebauminister und CSU-Mitglied, besteht im Namen von CDU/CSU darauf, eine Kuppel zu bauen. Am 28. Juni erteilen sie meinem Vater den Auftrag, einen Entwurf für eine moderne Variante auszuarbeiten. Mein Vater sagt: Yes, I do, und geht damit auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse ein und fährt fort, von seinem Zylinder zu sprechen. Am 30. Juni wird er auf einer turbulenten Sitzung darum gebeten, den Zylinder fallen zu lassen und sich stattdessen um die Kuppel zu kümmern. Mein Vater willigt ein, ohne jedoch eine Vorstellung davon zu haben, wie eine Kuppel aussehen könnte. Oscar Schneider ist erleichtert, im Bundestag glaubt man, eine Einigung erzielt zu haben, aber tatsächlich hat niemand das bekommen, was er wollte.
Ist das wohl die Demokratie?
In den Zeitungen brach ein Sturm der Entrüstung los. Die TAZ titelte: Reichstagskuppelei Leuchtturm ausgeknipst. Mein Vater jedenfalls nahm es gelassen. Als man ihn in einem Interview fragte, was denn wäre, wenn der Bundestag erneut seine Meinung ändere, antwortete er: „Ich weiß nicht. Vielleicht sind wir morgen alle tot. Die Welt wird sich weiterdrehen.“ Schneider kandidierte nicht mehr, die Befürworter der Kuppel verloren an Zustimmung.
Im Februar 1995 präsentiert mein Vater der Öffentlichkeit meine erste Ultraschallaufnahme: Eine enthauptete Eiswaffel, d.h., ein nach oben hin geöffneter parabolischer Körper, wie der Schornstein eines Krematoriums. Im Innern zwei Rampen, die eine für den Aufstieg, die andere für den Abstieg. In der Mitte der berühmte trichterförmige Kegel mit seinen beweglichen Spiegeln, die das Licht in den Plenarsaal leiten und sich dabei den im Tagesverlauf wechselnden Lichtverhältnissen anpassen und gleichzeitig als Sonnenschirm fungieren, um den Abgeordneten einen Sonnenbrand zu ersparen. Und all dies nach ökologischen Richtlinien!
Auf der einen Seite feindseliges und skeptisches Schweigen, auf der anderen Seite die Stimme des Architekten-Kollegen Santiago Calatrava, der behauptet, mein Vater habe sich zu sehr von einem seiner Projekte inspirieren lassen.
Im März droht die Abtreibung. Im April nimmt die Schwangerschaft ihren weiteren schwierigen Verlauf. Am 8. Mai wird das Projekt vom Ältestenrat genehmigt, die Befürworter der Kuppel fühlen sich betrogen.
Die Zeitungen, die öffentliche Meinung, die Gesellschaft Historisches Berlin schauen sich meine Ultraschallaufnahmen an und schütteln den Kopf. Sie sagen, ich sei eine Seifenblase, ein Bienenstock, ein englisches Ei, und ich hätte nichts Europäisches an mir.
CDU und CSU, die sich noch in den 80er Jahren in keinster Weise für Architektur interessierten, entdecken nun eine neue Berufung und sparen mit der Begeisterung von Konvertiten nicht an Kritik, ein wenig im Stile Wilhelm II., nur mit dem Unterschied, dass für die heutigen Konservativen die ehemals innovative Kuppel von Wallot von klassischer Schönheit ist, also keineswegs der „Gipfel der Geschmacklosigkeit“, wie Wilhelm II. damals verkündet hatte.
Ach, wenn nur der Kaiser diese modernen Konservativen gehört hätte! O tempera, o mores! Meine Ultraschallbilder werden in den Zeitungen neben Abbildungen anderer Gebäude gestellt, um zu demonstrieren, dass ich ohne Vorbild bin.
Angesehene Intellektuelle verlangen den Wiederaufbau der Wallotschen Kuppel, oder, dass der Reichstag für immer verpackt bleibe.
Eine regelrechte Bewegung der Wallotgetreuen formiert sich, die sich als wahre Proselyten aufführen. Das Architekturbüro meines Vaters hüllt sich in Schweigen, man arbeitet. Er entfernt die Prägung Baumgartens, vergrößert die Räume und versorgt sie mit Licht und Luft, und beweist, dass das Projekt so ökologisch wie ökonomisch ist.
Wir befinden uns am Ende des Jahres 1995. Man studiert weiterhin meine Ultraschallbilder und fährt fort, mich ein englisches Ei zu nennen. Im Frühjahr 1996 wird die letzte große Pressekampagne zur Verhinderung meiner Geburt gestartet. Aber zu meinem Glück setzen die Wehen bald ein. Meine Geburt verläuft im Großen und Ganzen komplikationslos, so dass ich zwischen Herbst 1996 und Sommer 1998 endlich das Licht der Welt erblicke.
Und was für ein Licht!
Alle kommen an meine Wiege, mich zu sehen.
Man sagte nichts allzu Schlechtes über mich, nur: Wie komisch sie aussieht!
Mein Vater lächelte allen stolz zu: Was aus ihr werden wird, wird die Zukunft entscheiden! Und sein visionäres Drittes Auge blitzte schon auf bei dem Gedanken, dass die Zeit ihm bald die Stirn küssen würde.
Er wusste, dass die Schwierigkeiten der Schwangerschaft bald vergessen sein würden und dass die Neugeborenen (wie ich) mich nicht nur normal, sondern auch schön finden würden, und die Alten daraufhin begeistert beteuern würden: Sie ist wunderschön! Er wusste, eben, dass die Schönheit im Auge des Betrachters liegt.
Übersetzt von Alberto Faussone