Ich habe gerade von Böll ‚Mein Onkel Fred‘ gelesen. Erst gestern habe ich mit einer Dame vor dem Medienpoint darüber gesprochen, dass Böll ein Nachkriegsschriftsteller ist, und seine Texte heute nicht mehr so nachempfunden werden können. Jedenfalls erzählt er in der Kurzgeschichte von einem Kriegsheimkehrer, der mit Blumenverkauf reich wird. In einer Zeit ohne Brot und Kohlen gab es also einen Bedarf an Blumen. Und es gibt ein Foto von Herbert Tobias, das eine Frau hinter aufgeschichteten Ziegelsteinen zeigt. Das war ihr Laden. Auf den Mauersteinen stehen einige Gefäße mit eher dürftigen Blümchen darin. Mich hat das Foto sehr berührt, aber es stimmt nicht mit meinen Erinnerungen überein. Meine Erinnerung an die Nollendorfstraße kennt keine Blumen. Die Fensterbretter des Hinterhofes waren leer. Auf dem zweiten Hinterhof standen Mülltonnen, sonst nichts. Als ich Jahre später wieder herkam, stand auf einem Fensterblech ein Blumenkasten und vor meiner ehemaligen Küche ein Blumencontainer mit was Grünem drin. Auf dem zweiten Hof wuchs Rasen. Ich konnte es nicht fassen. Wir hatten an alles Mögliche gedacht: an Essen, Holz aus den Trümmern, Kohlen, heile Schuhe – aber doch nicht an Blumen. Ein ehemaliger Kommilitone verdiente sich Geld mit dem Ausfahren von Blumen und erzählte mir später, er habe mir mal welche mitgebracht. Ich konnte mich nicht daran erinnern und sagte: „Hättest du mal lieber Schrippen mitgebracht“. Ich fragte Eva und sogar Antonia und andere Leute, ob wir Blumen hatte. ‚Dafür hatte man weder Geld noch Kraft‘ so ähnlich waren die Antworten. Und wenn ich noch weiter zurückdenke, auch mein Vater hatte keine Blumen auf dem Balkon. Nur vor dem Küchenfenster Tomatenpflanzen. Meine Kindheit, Heimzeit, Kellerzeit waren blumenlos.
Später wurden die Balkone immer üppiger. Die Leute bepflanzten Baumscheiben und Höfe. Auf dem Platz vor dem Rathaus gab es im Frühling einen Blumenmarkt. Vor zwei Tagen war ich wieder in der Nollendorfstraße. Jetzt stehen vor meinen beiden Kellerwohnungen Kübel mit Bäumen. Heute ist für mich ein Balkon ohne Blumen so undenkbar wie eine Wohnung ohne Bücher – oder eine Küche ohne Schmalztöpfe – aber das ist nicht so ganz ernst gemeint.