Am Savignyplatz ausgestiegen, ist die Luft ganz anders als in Grunewald. Die Erinnerung daran tragen wir in uns, aber ein kleines bisschen davon weht auch in der Stadt. Jetzt wissen wir, wo dieser leichte Strom von Frische herkommt.
Savignyplatz und Umgebung ist voller Buchhandlungen, Antiquitätenhändler, Schuhgeschäfte und Einrichtungsläden, und Lokale zum Essen, wohin man auch blickt. Einige Namen von Restaurants und mancher gedeckter Tisch wirken sehr einladend, aber unser Gespür führt uns in ein einfaches und doch attraktives Lokal namens Zwibelfisch. Es ist eine Kneipe, in der man Bier trinkt, raucht, sich unterhält, und alle möglichen Sorten Leute treffen kann, außer Touristen. Von Mittags bis spät in die Nacht bietet die Küche ein Dutzend robuster, einfacher Gerichte: Erbsensuppe mit Wursteinlage, Linsensuppe, Matjesfilet mit Kartoffeln, Chili con carne…Nichts für verwöhnte Nasen und Gaumen, sondern alles eher deftig: der Geruch nach kräftigen Gewürzen mischt sich mit Zigarettenrauch und dem Dunst von Kölsch. Die Kneipe ist sehr beliebt und entsprechend gut besucht: Rauch, Bier, und deftiges Essen verdichten sich zu einer betäubenden Mischung. Man verlässt den Zwibelfisch betäubt, aber zufrieden: die Betäubung läutert, kräftigt, und macht gute Laune. Hier hat man den Eindruck, der ganzen Stadt anzugehören, und nicht einer bestimmten sozialen Schicht oder Berufsgruppe, keiner intellektuellen Gruppierung oder politischen Richtung, sondern schlicht und einfach dem Volk von Berlin in all seinen Schattierungen. Die Berliner Arbeiter sind immer auch ein bisschen intellektuell, und die Berliner Intellektuellen wissen, was Arbeit bedeutet. Alle essen sie die gleiche Suppe, trinken das gleiche Bier und sitzen zusammen am selben Tisch, mehr als in anderen Städten.
Der Witz der Busfahrer, der Wirte, der Müllmänner ist hier wie selbstverständlich mit reinster Philosophie durchwachsen.
Die gutmütige Schläue der kleinen Leute aus den Zeichnungen Zilles oder den Erzählungen Kästners schlägt bei den Einwohnern der modernen Metropole immer noch durch und bestimmt ihr Wesen.
Wie der Berliner es geschafft hat, durch die Katastrophen der Geschichte hindurch nicht nur sein Leben, sondern auch seine Lebhaftigkeit zu bewahren, ist ein Rätsel der Alchimie das wohl in der Luft verborgen liegt.
Beim Verlassen des Zwibelfisch haftet der Mief des Volkes in den Kleidern, wir laufen ein paar Schritte zu Fuß, um ihn wieder in die Atmosphäre zu entlassen.
Wir nehmen die Kantstraße in Richtung Hausnummer 106, um das ungewöhnliche Parfumgeschäft Harry Lehmann zu besichtigen, Öffnungszeiten 9 – 18.30, samstags bis 14 Uhr.
Auf dem Weg zwischen dem Zwibelfisch und Harry Lehmann begleitet uns eine Reihe chinesischer und fernöstlicher Läden und Restaurants mit einem Geruch, dessen Exotik inzwischen verflogen und Bestandteil unserer globalisierten Banalität geworden ist.
Das Parfumgeschäft Lehmann ist wie eine Insel aus alter Zeit inmitten eines Meeres neuer Geschäfte und Einkaufszentren, der Besuch hier ist ein besonderes Einkaufserlebnis, ganz anders als gewöhnliches Shopping.
Es ist wie ein kleines Loch in einem zugefrorenen See, aus dem man Emotionen und Erinnerungen fischen kann, die auf dem Grund liegen und von deren Existenz man nichts mehr wußte.
Es gibt etwa fünfzig Düfte, sie werden aus ätherischen Ölen hergestellt, die aus Frankreich stammen.
Die Hälfte des Ladens ist kurioserweise voll mit künstlichen Blumen.
Die kostbaren Flüssigkeiten werden nach Gewicht verkauft und sind relativ günstig, weil keine Werbungs- und Verpackungskosten anfallen. Wenn man will, kann man sein eigenes Fläschchen mitbringen und sich die Essenzen nach Wunsch abfüllen lassen, oder sie auch mischen. Am häufigsten wird die Nummer 58 verkauft: Tulpe, frisch, fruchtig, klassisch. Heliotrop riecht nach Vanille, Neroli enthält leichte und frische Orangenblüten, Akazie bildet genau den süßen, durchdringenden, intensiven Geruch der Akazienblüte ab, die hier in Berlin im Mai blüht, gefolgt von der Lindenblüte, deren süßer und zarter Duft für die Stadt so emblematisch ist. Jeder Berliner könnte auf weite Reisen ein Fläschchen davon gegen Heimweh mitnehmen, oder die Stadtverwaltung könnte täglich die Baustelle in Unter den Linden damit besprühen, als Entschädigung für den beklagenswerten Zustand der Prachtstraße.
Wir riechen auch an einem Eau de Cologne, das Eau de Berlin heißt und als „modern, intensiv spritzig, frisch“ beschrieben wird und starke Zitrus-Noten hat. Zitrusfrüchte gibt es in Berlin allerdings (noch) nicht. Es ist einfach eine geruchliche Interpretation der urbanen Dynamik. Zwei Rosen-Essenzen kann man noch probieren, und einen ganz besonderen, wunderbaren Veilchenduft, wie ihn wahrscheinlich so ähnlich Marlene Dietrich trug.
Man kann in aller Ruhe herumschnüffeln. Fünfzig verschiedene Noten sind eine ganze Menge, und doch behält hier jedes Parfum seinen spezifischen Charakter bei, ohne die olfaktorische Verwirrung, die sich sonst in den Parfumgeschäften mit üblichen Marken einstellt.
Die Geruchswahrnehmung ist etwas sehr individuelles, und hier gibt es wohl für jeden etwas, was die Erinnerung an eine bestimmte Lebenssituation wachruft.
Das Geruchsgedächtnis vermittelt uns starke, unmittelbare Emotionen, und kann uns ganz plötzlich in eine Vergangenheit versetzen, die wir längst vergessen glaubten.
Es könnte passieren, dass ein älterer Mensch, der sein Leben lang gereist und mit den verschiedensten Menschen in Kontakt gekommen ist, sich plötzlich erinnert, wie er mit 12 Jahren in Paris war, nur weil er an dem Veilchenduft schnuppert.
Die Bedienung nimmt Vertraulichkeiten stets mit einem Lächeln entgegen und legt sie im Geiste wohl geordnet ab.
Übersetzt von Christoph Timpe