Kreuzberg: Gentrifizierung und Widerstand

Raffaela Rondini

Kreuzberg ist nicht einfach nur ein Berliner Bezirk. Kreuzberg, damit ist mehr gemeint, normalerweise ein Problem.

Um den Komplex Kreuzberg ins rechte Licht zu rücken, müsste man die daran geknüpften Vorurteile und Gemeinplätze wie eine Collage zusammenkleben und hoffen, dass etwas Erkennbares herauskommt.

Was auch immer in Kreuzberg unternommen werden soll, und sei es nur, darüber zu reden, löst bei den hitzigen Bewohnern des Viertels heftigen Widerstand aus. Und sofort werden Unterschriften gesammelt: Nein! Stopp! Jetzt reicht’s!

Ganz egal, worum es geht, bei der Unterschriftensammlung geht es ums Prinzip: Nein! Stopp! Jetzt reicht’s!

Berlin ist ein junge Stadt, aber Kreuzberg bleibt ewig halbwüchsig und manifestiert das mit lauten Gebärden. Jede Generation schafft ihr eigenes Kreuzberg, aber immer dagegen.

Eines der großen Probleme des heutigen Kreuzberg beschäftigt uns hier besonders. Es ist eine neu importierte, kapitalistische Droge und heißt Gentrifizierung. Die Immobilienspekulation hat die Wohnungspreise in die Höhe getrieben, das Viertel wurde bürgerlich, und die interessanten Gerüche sind in vielen Straßen ebenso verschwunden wie die ursprünglichen Bewohner.

Aber Kreuzberg ist zäh. Es hat Bergmannstraße und Umgebung den Reichen überlassen, zieht sich Richtung Neukölln zurück und gibt nicht auf. Allerdings klettern auch in Neukölln die Mieten ständig nach oben. Aber kampflos aufgeben wird auch Neukölln nicht, das spürt man. Die Waffe des Widerstands ist in unserem Fall der Geruch. Kreuzberg-Neukölln, auch Kreuzkölln genannt, ist ein Arbeiterviertel. Um Proteste unter den Mitgliedern der zweihundert ethnischen Minderheiten zu vermeiden, nennt man es multikulturell, aber eigentlich ist es überwiegend türkisch. In Kreuzberg ist das Leben und die Küche eher nahöstlich, und vom Aroma her ist das für uns von großem Interesse.

Nach Kreuzkölln sind auch Leute gezogen, die nicht nahöstlich sind, aber die wollen auch nicht aufgeben.

Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Teile von Ex-Ostberlin, schweben prahlerisch einige Meter über dem Boden, sind zukunftsorientiert und fühlen sich wer weiß wie hipp und fusion*. Dagegen ist Kreuzkölln die wahre Hochburg des aromatischen Widerstands.

In Kreuzkölln gibt es Kanäle, die im Sommer richtig kräftig nach Kanal riechen, es gibt den türkischen Markt am Maybachufer dienstags und freitags, Lokale wo man Tee trinkt und türkische Zigaretten raucht, wo es Wasserpfeifen und alle möglichen gerösteten Samenkerne gibt.

In Kreuzkölln beschnuppern wir die Luft in der Oranienstraße, U-Bahnhof Kottbusser Tor, und vergleichen sie mit der beispielsweise in der Oranienburger Straße, die ähnlich klingt und anders riecht, denn in der Oranienburger weht die Luft von Mitte.

Nehmen wir doch die U1 bis Kottbusser Tor. Die Bahn fährt überirdisch, das fühlt sich immer ein bisschen an wie auf der Achterbahn. Allerdings ist das am 1. Mai wegen der Krawalle nicht so empfehlenswert. Mit Papier und Stift wollen wir alle Gerüche genau aufzeichnen. Zunächst mal riecht man gar nichts, denn um uns herrscht das reinste Chaos. Vom Hochgleis blickt man auf eine infernalische Straßenkreuzung, ständig verstopft vom Geschäftsverkehr. Geschäftig sind auch die Treppen zu den Gleisen, offenbar Drogen. Aus den Schatten der Stahlträger dringen Wolken von abgestandenem Urin. Das ist der richtige Ort für uns, denken wir, aber nein, plötzlich verschließt sich die Nase, alles beginnt zu zittern, wir vibrieren im Takt mit dem Preßlufthammer der gerade den Asphalt zertrümmert. Da müsste dann auch eine Teermaschine sein, etwas Leckeres zum Schnüffeln, aber vergebens, wir können uns nicht konzentrieren. Die Autos vibrieren an den vielen Ampeln des Kreisverkehrs, und wir vibrieren zusammen mit dem Preßlufthammer. Die Nase ist außer Gefecht, wir werden zu Schall und Druck. Die Macht des Stärkeren. Wir müssen unbedingt der Druckwelle entfliehen.

Wir nehmen die Adalbertstraße und treffen bald auf das türkische Restaurant Nummer eins: Hasir. Fleisch und Gemüse rauchen über der Glut und an dem riesigen Spieß, allein der Geruch garantiert für Qualität. Paprika, Zwiebeln und Kohl präsentieren sich im Schaufenster und aus der Küche quillt der Dampf der Linsensuppe.

An der Kreuzung biegen wir rechts in die schöne Oranienstraße. Wir betreten gleich das Antiquariat an der Hausnummer 28a und entdecken, dass gebrauchte Bücher mehr nach Papier als nach Leim riechen. Der Geruch erinnert an Bibliotheken und die Bücherregale zu Hause. Die ebenso interessante Buchhandlung an der Nummer 25 birgt einen kostbaren Nachgeruch nach stark abgetretenem Teppichboden, die Photobände duften nach moderner Buchhandlung. Der spartanische, aber gehaltvolle Bücherverkauf an der Nummer 21 riecht nach Papier und Rauch. Jemand hat geraucht, aber auch ausgiebig gelesen. Im Comicladen an der Nummer 22 riechen die Regale mit den neuen Ausgaben stark nach Leim, die alten schwarz-weißen Comics dagegen entschieden nach Papier. Die Leim-Note der Comics scheint anders als die der Bücher. Vielleicht ist der Leim ja verschieden. In manchen Ecken des Ladens riecht es genauso wie damals in den 80ern beim Öffnen der Päckchen mit Sammelbildern, an einer ganz anderen Stelle der Welt. Noch bevor man erkennen konnte, welche Abziehbilder im Päckchen auf dünnem Papier verschweißt waren, kündigte sich die Freude durch den Geruch an. Wir würden gerne länger bleiben, denn hier kommt mit der Erinnerung auch die Freude von damals wieder auf. Zwischen den fernöstlichen Puppenfiguren schwebt eine bittere Note nach Erdöl, das liegt bestimmt an dem Plastik.

Melek Pastanesi

An der Hausnummer 28 ist Melek Pastanesi, eine türkische Bäckerei mit Backstube, haufenweise übereinander gestapelte Brote und Süßigkeiten vermitteln ein gemütlich duftendes Gefühl von Überfluss. Mittelmeerische Aromen dominieren mit Olivenbrot, Sesam, Pistazien, Mandeln, und Honig.

An der Nummer 27a findet sich eine große Teestube, Smyrna Kuruyemis, das heißt „Nüsse aus Smirna“, mit einem Geschäft mit türkischen Nüssen und Süßwaren. Hier treffen sich die Türken, am liebsten getrennt nach Geschlechtern, die Männer gucken nach den Frauen und die Frauen gucken auf ihr Handy. Man trinkt Tee und knabbert in rauen Mengen Pistazien, Mandeln, Haselnüsse, Erdnüsse, Cashewnüsse, Kürbiskerne, Sonnenblumenkerne, Mais, geröstete Kichererbsen und Saubohnen, wahlweise auch mit Paprikaüberzug. Ein leichter Röstgeruch liegt in der Luft und man hört das ständige Klicken der Kerne, die mit den Zähnen geöffnet werden. Stühle werden herumgeschoben, man unterhält sich und lacht laut, und keiner fühlt sich gestört. Hinten ist ein Raum für Raucher, aber da die Tür permanent auf und zu geht, verteilt sich der Rauch im ganzen Lokal. Die Kundschaft ist rein türkisch, ebenso die Anzeigen. „Kahve fali

bakilir“ steht an der Kasse, „Eleman araniyor“ ließt man auf der Tür, und das ist nicht für alle gedacht, auch wenn damit nur ein Kellner gesucht würde.

Der Liebhaber von Süßigkeiten erkennt sofort die Ausdünstung von Vanillezucker und Honig. Sie steigt aus den Feigen, Datteln, Nüssen, aus Kokos und Mandeln, die auf verschiedenste Weise verarbeitet, mit Sesam überzogen, in türkischen Honig gebettet, oder einfach als Konfekt oder Dragee angeboten werden. In einem Korb liegen Gewürze: Salbei, Zimt, Kamille, Minze, Ingwer und Lindenblüten. Da ist olfaktorisch schon einiges los.

Bürstenmanufaktur USE

Eine ganz besondere Luft atmet man in der Nummer 26. Es ist die Werkstadt mit Bar der USE, Union sozialer Einrichtungen, einer gGmbH, deren Erlös den Mitarbeitern zugute kommt. Hier sind etwa 150 körperlich oder psychisch Behinderte beschäftigt, betreut von rund 30 Erziehern, Psychologen, und Personal für Produktion und Vertrieb.

In der Werkstatt werden Keramik, Bücher, Pappschachteln, Gegenstände aus Holz, Gemälde und Blumengebinde hergestellt, Stoffe werden gewebt und Stühle mit Stroh bezogen, und aus vorwiegend natürlichen Materialien werden Bürsten und Besen produziert.

Bürstenmanufaktur USE

Hier kann man für ganz wenig Geld sehr spezielle Dinge bekommen. So hat die Werkstatt für Bürsten und Besen beispielsweise eine Zusammenarbeit mit Kreativen, die nicht nur Bürsten in Form von Bären oder dem Brandenburger Tor erfunden haben, sondern auch eine konische Flaschenbürste in grün, mit der man Biergläser reinigen kann: einmal im Jahr kann man sie umdrehen, dann geriert sie sich zum kleinen Weihnachtsbaum, elegant und preiswert…

Der Staubwedel riecht nach Ziege, und da stellt sich dann die Frage: Entschuldigung, werden hiermit Ziegen abgestaubt, oder ist der aus Ziegenhaaren? Antwort: Es sind Haare von chinesischen Langhaarziegen. Und, sehen Sie hier, dieser Besen ist aus robustem Pferdehaar, dieser Schrubber aus chinesischen Schweinebörsten, die Bürsten da, die machen wir aus Kokosfaser, und hierfür verwenden wir die äußerst widerstandsfähige mexikanische Agave, die schon zur Zeit der spanischen Eroberer als Isolation im Schiffsbau eingesetzt wurde…

Bürstenmanufaktur USE

Und so beginnt ein Spiel,  das wir so heute, hier in Berlin, wirklich nicht eingeplant hatten: so riechen also die Schiffe der Conquistadores, und hier ist die trockene, exotische, holzige Essenz der Kokosnussschale, und das Pferdehaar hat weniger Geruch als das Fell der Tiere im Grunewald, denn das Haar ist kompakt und wasserundurchlässig, und absorbiert weniger die Körperflüssigkeiten der Pferde als das Fell…

Frage: Entschuldigung, also Besen aus Plastik…

Antwort: Besen aus Plastik werden hier nicht hergestellt. Unsere Mitarbeiter sind größtenteils blind und haben Wahrnehmungsstörungen, sie arbeiten am liebsten mit Naturfasern. Hören Sie, manchmal werden Fasern irgendwoher geliefert, die gegen Parasiten mit Petroleum behandelt sind. Die Mitarbeiter riechen noch den kleinsten Rückstand von Petroleum, der selbst unserer rigorosen Qualitätskontrolle entgangen ist. Wissen Sie, was sie dann in der Einkaufsabteilung sagen? Das Zeug kannst du selbst verarbeiten!

(Und das sollen Wahrnehmungsstörungen sein: so sind die echten Arbeiter aus Kreuzberg!)

Frage: Und Ihre Besen halten länger?

Antwort: Unsere Besen haben ein langes Leben, solange sie atmen können. Man muss sie immer mit der Bürste nach oben stellen, sehen Sie? So. Sonst verbiegen sie sich und leiden.

Frage: Also dann ist das hier eine Musterwerkstatt, wo nachhaltige Produkte hergestellt werden, wo die Luft rein ist und die Arbeit ganz harmonisch abläuft…

Bürstenmanufaktur USE

Antwort: Das hier ist ein Ort, an dem sich 150 Personen mit angeborenen oder erworbenen Problemen durch ihre Arbeit ausdrücken können. Das heißt aber nicht, dass hier nicht auch mal dicke Luft herrscht. Jeder hat seine Grenzen, manchmal gibt es Streit, oder jemand verliert den Mut oder wird von seinen Gefühlen überwältigt…

Wir verlassen dankend den Laden, nicht ohne eine Gläserbürste alias Weihnachtsbaum mitzunehmen. Es ist nicht gerade Weihnachtszeit, aber immerhin ist das Bäumchen immergrün, sorgt über’s Jahr für saubere Gläser und erinnert uns an die Atmosphäre hier in der Oranienstraße 26. Es wird uns mehr Sauerstoff spenden als wir uns je hätten vorstellen können!

Ein äußerst interessantes Geschäft ist das Green Fuzz, Hausnummer 23a, eine Art Bazar für Mode, die anderswo als alternativ bezeichnet würde, hier aber ganz normal ist. Außerdem gibt es Restposten von Schuhen, billige Taschen aus allerlei Material, und verschiedene Accessoires.

In so einem Laden findet man den Geruch der Schuhläden von früher wieder, und wenn man der Spur folgt, stößt man mit der Nase auf sehr robuste Schuhe, die nach echtem Leder riechen und gerade mal 10 Euro kosten. Wie ist das möglich? Das ist möglich, weil es Einzelnummern und die Modelle aus der Mode sind. Den Preis macht nämlich die Werbung und das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Für beides bleibt die Nase außen vor.

Wir treten in die Hausnummer 23 ein, um zu riechen, ob in den vielen Wollknäuel noch Schafgeruch steckt.  Wenn Wolle noch Lanolin, das Tierfett, enthält, riecht sie tatsächlich stark nach Schaf und hinterlässt bei Berührung Fett auf den Fingern. An zweiter Stelle steht beim Geruch die ungefärbte Wolle. Erstaunlicherweise steckt der Geruch auch in einer Wolle in Signalfarbe. Sogar die Schafe haben Charakter in Kreuzberg. Hier in dem Laden gibt es Knäuel und Stoffe aus Seide; auch Seide hat einen Geruch, sie riecht frisch, etwas bitter, nach Schale…

Jetzt überqueren wir die Straße und gehen zur Nummer 192, dem Hanfhaus. Beim Eintreten denken wir an wer weiß was für Gesetzesverstöße, aber der Geruch an den wir dabei denken findet sich lediglich in einem Shampoo. Hanf bedeutet hier ein natürliches Gewebe, das praktisch überhaupt nicht riecht, weil es nicht von Bakterien angegriffen wird. Deshalb absorbiert es die Transpiration des Körpers und schützt vor Schweißgeruch. Hanf wächst sehr schnell, etwa 1 Meter pro Monat, es enthält Zellulose und wäre ein alternativer Rohstoff für die Papierherstellung. Wir überqueren wieder die Straße.

Nummer 20 ist ein ganz kleiner, alteingesessener Lebensmittelladen, mit Käse und Wurstwaren aus aller Herren Länder, vor allem Frankreich, Italien und Deutschland. Rauchige Noten dominieren: Salami und geräucherte Scamorza. Wehe, man sagt: wie im KaDeWe! Ein Beleidigung. Wehe, man sagt das Gegenteil: auch eine Beleidigung. Kreuzberg hält darauf, nicht Schöneberg zu sein, ja allein der Gedanke an Schönberg führt zu Irritation.

Sicherlich haben wir uns bei unserem Streifzug nun schon öfters gefragt, ob unsere Schnüffelei wirklich so sinnvoll ist. Und jedes mal haben wir uns im Geiste beruhigend auf die Schulter geklopft und uns gesagt, dass wir ja auf dem richtigen Weg sind, dass dieser Weg der Erkenntnis aber eben auf Umwegen zum Ziel führt. Die echte Erkenntnis, die Erleuchtung wollte sich indessen noch nicht einstellen. Wir häufen olfaktorische Notizen an, treffen Leute, wie ein Wissenschaftler, der demütig Tag für Tag dieselben Messungen wiederholt, jahrelang, und eines Tages, auf einmal…Heureka!

Heureka sagen wir auch, im Moment wo wir den Hinterhof der Hausnummer 19a betreten. Dort ist ein Schreiner der vernehmbar Kiefer, Eiche und Buche verarbeitet, und da ist dann noch die Werkstadt vom Zentralrad, der Stolz der Radfahrer des ganzen Bezirks, mit seinem Geruch nach Reifengummi und Schmieröl. Auf den Beeten im Hof ist Oregano gepflanzt, das riecht man auch, und außerdem gibt es in den Wohnungen noch ein paar alte Kohleöfen, eine wertvolle Geruchserinnerung an die Zeiten, als ganz Berlin auf diese Weise beheizt wurde. Der Rauchabzug einer Pizzeria ist dazu ein leckerer Ausgleich. Und dann ist da vor allem noch Propolis, ein Geschäft für Naturfarben für Maler, Öffnungszeiten Dienstag bis Freitag von 13 bis 19 Uhr, Samstag 11 bis 14 Uhr. Bei dem  Namen denkt man an Naturprodukte und new age.

Propolis

Aber Propolis ist keineswegs new age. Ein schummriges Altbau-Treppenhaus, nicht so schön renoviert wie in Mitte oder Prenzlauer Berg, bringt einen vor die Tür, und dahinter betritt man wie durch einen Wunderspiegel eine ganz andere Welt. Wir erobern hier eine neue Dimension und machen die sensationellste Entdeckung, die unsere Recherche überhaupt zu bieten hat. Wir erfahren nämlich, dass Gerüche nicht nur hier und jetzt bestehen, sondern eigenes Leben und Geschichte haben, dass sie sich miteinander addieren und in Beziehung treten und so einen dreidimensionalen olfaktorischen Raum erzeugen. Hier bei Propolis finden wir die Geschichte und die Gesellschaft der Essenzen. Anders als in einer Bibliothek, die das Wissen einordnet und katalogisiert, haben die geruchlichen Charaktere der verschiedenen Stoffe regen Austausch untereinander und mit den Besuchern. Die Gerüche bewegen sich zwischen den Regalen hin und her und durchmessen Raum und Zeit nach Belieben. Soviel ist den Büchern nicht vergönnt. Propolis entzieht sich jeder Beschreibung, sammelt aber hingebungsvoll seit über dreißig Jahren mehr als 240 Pigmente und über tausend Substanzen und läßt alles spontan miteinander leben. Hier ist wirklich ein Ort für die Seele, den man auf verschiedenen Ebenen intensiv genießen kann. Wer Sensibilität für die sichtbare Welt mitbringt, ist beeindruckt von der Vielzahl der Pigmente in kleinen Döschen oder  durchsichtigen Tüten, die überall herumliegen. Die Regale und Schubladen, überwiegend aus Holz, quellen über von Malerartikeln, Bildern, Rahmen, und überall liegen Kunstwerke und alte Gegenstände herum, die kreativ genutzt werden und fröhlich durcheinander springen. Alte Bücher, wertvolle Ampullen und Behälter aus dunklem Glas haben keinen würdevollen Ernst, sondern vermitteln unbekümmerte Kompetenz, deren Lehre man auf der Stelle annimmt. Nirgens ist aufgeräumt oder Staub gewischt. Niemand hat hier Zeit und Energie mit uninteressanten, bürgerlichen Beschäftigungen zu vergeuden wie Fensterputzen, Aufwischen, oder gar ihrer verabscheungswürdigen modernen Variante des Staubsaugens, und doch atmet man in diesem wundervollen Chaos die beste Luft von ganz Berlin.

Propolis

Staub ist hier nicht einfach ordinärer Schmutz: auch der feinste Staub hat hier einen Namen und eine Funktion, und man hat den Eindruck, eine Luft zu atmen wie in chemischen und physikalischen Labors alter naturwissenschaftlicher Institute. In einer Ecke riecht es nach süßem Bienenwachs, in einer anderen unangenehm fruchtig nach gemalener Zellulose, aus einem Winkel drängt eine Gibswolke, einer Dose mit leuchtenden Pigmenten entsteigt der Geruch von Mineralöl… Das Geheimnis dieser so offensichtlichen Harmonie liegt wohl in der perfekten Kombination aus künstlerischer Intuition, Natur, Kultur, Freiheit und Zeit. Hier herrscht eine höhere, geistige Ordnung, deren Wellenlänge nur schwer greifbar ist, sich der sinnlichen Wahrnehmung aber intuitiv und unmittelbar darstellt. Die Essenzen und Gegenstände können sich einfach frei entfalten, und ihre Qualität sorgt dafür, dass sich der Austausch stets freundlich und großzügig gestaltet. Die ätherischen Öle sind zwar in Flaschen verschlossen, werden aber auch entnommen und verdünnt, und ihre Spur schwebt noch in der Luft, so dass je nach Temperatur mal das eine, mal das andere zu Wort kommt. Wenn es auf Erden ein geruchliches Paradies gibt, dann bei den ätherischen Ölen, und ein großer Teil von diesem Paradies ist dann hier. Man möchte tagelang daran riechen, und ganze Seiten mit Eindrücken, Träumen und Erinnerungen füllen, um dann am nächsten Tag wiederzukommen, um diese Welt und ihre komplexe Harmonie erneut liebevoll zu beschnuppern.

© L42 AG

Übersetzt von Christoph Timpe

6 Jahren vor