„Berliner Luft“ ist ein bekannter Marsch aus der Operette „Frau Luna“, komponiert 1904 von Paul Lincke zu einem Text von Heinrich Bolten-Bäckers.
Die lustige Melodie gehört ebenso zur Stadtgeschichte wie das Brandenburger Tor, sie steht für die Lebendigkeit der Stadt und wird in den verschiedensten Versionen gern zitiert, um die sprichwörtliche Quirligkeit dieser Stadt hervorzuheben.
Die Berliner Philharmoniker zum Beispiel verabschieden sich mit diesem Lied vom Publikum der Waldbühne, zum Abschluss der Freilicht-Konzerte.
Die Luft von Berlin war schon immer etwas Besonderes.
Dieses Stelle Deutschlands weist offenbar eine ganz besondere Mischung atmosphärischer Gase auf: wer sich in der Nase einen gewissen Rest animalischen Instinkts bewahrt hat, unterliegt ihrer magischen Anziehung.
Irgendetwas trifft hier ganz direkt die Sinne und die tieferen Schichten des Gehirns, ohne den Umweg über die bewusste Wahrnehmung.
Die Geruchsrezeptoren senden ihre Signale nämlich direkt an das limbische System, einem Teil der Hirnrinde und Zentrum der Emotionen, Erinnerungen, aber auch der tieferen Instinkte.
Ein Geruch weckt in uns unmittelbar Erinnerungen und an sie geknüpfte Emotionen, oder drängt uns instinktiv zu existenziellen Entscheidungen, wobei die Zentren des rationalen Bewusstseins ausgeblendet werden.
Viele behaupten, Berlin leide an einem Mangel an Rationalität und unter dem Übermaß an allem, was zu Rationalität im Gegensatz steht. Dieser Gedanke taucht in den Kommentaren zum städtischen Leben immer wieder auf: Der geschwätzige Jubel der alternativen Kreise darüber ist ebenso einhellig wie die verärgete Ablehnung aus den Reihen der Konservativen.
In Berlin bewegt sich die Luft ebenso schnell wie die Ideen, die sie in Umlauf bringt. Wir sind den Winden ausgesetzt, ohne Schutz durch natürliche Barrieren. Keine Bergkette bringt die Atmosphäre zur Ruhe, steter Wechsel ist unser Schicksal: Wolken, Regen, Wind und Sonne jagen einander und die Luft wird ständig neu zusammengesetzt.
Die Berliner Atmosphäre hat sich im Lauf der Geschichte häufig geändert, aber was wir hier beschreiben wollen, ist unser Berlin der Gegenwart.
Allein das Wort „Gegenwart“ ist für Berlin viel zu statisch, man müsste etwas dynamischeres erfinden. Die Stadt hat die Sprache längst hinter sich gelassen.
Zugegeben, die Zeitverschiebung lässt sich nicht vermeiden: was wir heute erzählen, ist morgen, wenn es gelesen wird, schon von gestern.
Dabei sollte diesmal alles ganz aktuell sein, ein Frische-Führer sozusagen, alles von heute. Wir sind sogar auf einen Markt gegangen: wir hatten die besten Vorsätze und haben eine Menge dazugelernt, und dann haben wir an jedem Stand dieselbe dumme Frage gestellt: Und Sie bleiben doch hier, oder? Und alle, auch die, die schon ewig da waren, haben mit echt berlinerischer Philosophie geantwortet: Wer weiß? Richtig: wer weiß?
Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der Stadt: wer weiß? Ja, so ist das.
Das hier ist ein Geruchs-Führer, fehlerhaft, wie alles im Leben, und dazu noch ziemlich wechselhaft.
Ein ganz subjektiver Führer, der die Subjektivität anregen will und den Geruchssinn feiert, den elementarsten aller Sinne, dem wir wertvolle emotionale und intuitive Kompetenzen verdanken.
Die menschliche Nase soll über 350 Rezeptoren verfügen, die die Wahrnehmung 15.000 verschiedener Gerüche ermöglichen. Diese Gerüche sind jedoch noch nicht namentlich erfasst.
Eine kluge Wissenschaftlerin aus Skandinavien, Sissel Tolaas, beschäftigt sich seit Jahren mit den Berliner Gerüchen. Egal ob gut oder schlecht, sie bildet sie in ihrem Labor nach.
Eines ihrer ehrgeizigen Ziele besteht in der terminologischen Erfassung, die eine allgemeine und eindeutige Bezeichnung ermöglichen soll.
Eine anspruchsvolle Aufgabe.
Unsere Reise in die Welt der Berliner Düfte beginnt am Winterfeldplatz, in Schöneberg, an einem Samstag Morgen, wenn der Markt in seiner ganzen Größe aufgebaut ist.
Der Markt am Winterfeldplatz ist in ganz Berlin bekannt für seine Vielfalt. Hier können wir den Geruchssinn schulen, bevor wir uns den olfaktorisch komplexeren Gebieten der Stadt widmen.
Wir erschnüffeln dann weiter den Westen: Wittenbergplatz mit dem KaDeWe, dem Kaufhaus wo Duftmuster von Handelsgütern aus aller Welt versammelt sind. Der Berliner Luxustempel bietet nahezu alles und lockt zum Vergleich mit der Parfumgeschäft Harry Lehmann in der Kantstraße, wo man natürliche Essenzen nach Gewicht kaufen und nach Belieben kombinieren kann.
Dann riechen wir Grunewald, den Wald, den See und die Eisenbahn. Mit gut durchlüfteten Lungen setzen wir uns dann in eine rauchige Kneipe für ein deftiges Mittagessen.
Wir ziehen weiter nach Kreuzberg, das ehemalige Arbeiterviertel, das sich vor der Gentrifizierung nach Neukölln zurückzieht und dort geruchsstarken Widerstand leistet.
Inzwischen ist unsere Nase geschult für Mitte. Hier ist die Luft ganz anders. Mitte wird immer schicker, seit über 20 Jahren wird hier herumgepudert, dass nur so der Staub wirbelt. Und wenn oberflächliche Maßnahmen nicht mehr ausreichen, werden die ästhetischen Eingriffe eben drastischer. Dann wird die Chirurgie invasiv: es wird gebuddelt, geliftet, und mit Teer ausgespachtelt. Und wenn ein Stück fertig ist, dann geht unser Aschenputtel zum Tanz. Aber ein Tanz reicht da nicht: anderswo wird weiter gespachtelt, gepudert, geliftet, und Aschenputtel wird ganz hysterisch dabei.
Je mehr sich die Stadt herausputzt, desto mehr Gerüche gehen verloren. Gerüche, die wir nie gemocht haben, bringen uns jetzt plötzlich zu nostalgischem Schwärmen. Wir schnuppern ihnen nach, wenigstens dem Gedächtnis sollen sie erhalten bleiben. Am liebsten würden wir ein bisschen außerhalb ein Neu-Berlin bauen, da könnten wir sie dann aufbewahren.
Alexanderplatz ist in Mitte, aber auch Grenzgebiet. Hier weht alles durch, aber nichts bleibt haften, der Platz lässt sich nicht so leicht beeindrucken.
Schließlich gehen wir in die Außenviertel: beim Olympiastadion, wenn Fußballspiel ist, dominiert der penetrante der Geruch nach Bier in allen Sorten und Verdauungszuständen, oder die Motorenabgase der Fahrschulen, oder der überwiegend süßliche Geruch aus den Schornsteinen des nahen Industriegebiets, an Tagen ohne Fußballspiel. Hier, in der Nähe der Schornsteine, singen am Ende der Sommerspielzeit die Berliner Philharmoniker und zwanzigtausend euphorische Zuhörer: Das ist die Berliner Luft!
Hätten wir seriöse wissenschaftliche Ambitionen, dann müssten wir eigentlich mit verbundenen Augen durch die Stadt ziehen, und uns ganz auf die olfaktorischeWahrnehmung beschränken.
Doch das hätte Verkehrsbehinderungen und Störung der öffentlichen Ordnung zur Folge, und all unser Suchen nach Eindrücken und Emotionen fände ein rasches Ende durch das freundliche Einschreiten des nächsten Polizisten.
Wir werden uns bei unserem Streifzug durch Berlin also darauf beschränken, den Geruchsinn unseren anderen Sinnen zur Seite zu stellen. Denn der Geruchsinn eröffnet uns möglicherweise einen unmittelbareren Zugang zu dieser unglaublichen Stadt, und vielleicht kommen wir uns dadurch auch selbst etwas näher.
Übersetzt von Christoph Timpe