Das Viertel im Zentrum von Berlin heißt Mitte. Es war Teil von Ostberlin, und birgt heute eine Vielzahl unterschiedlicher Identitäten. In Mitte ist alles und gleichzeitig nichts: nach dem Mauerfall hat man plötzlich festgestellt, dass das ja das Herz der neuen und alten Hauptstadt ist und bald vor der Welt zum Symbol und Image der Stadt werden muss.
Doch noch bevor philosophische Spekulationen sich träge dem Thema annahmen, ergriff die Immobilienspekulation entschlossen die Initiative.
Mitte wurde so zum Wirtschaftsfaktor, um den sich in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten der sonst eher verschlafene Berliner Unternehmergeist gedreht hat.
Zugegebenermaßen sind auch in diesem Fall Investoren und Kapital wenig berlinerisch und sehr globalisiert, die Arbeitskräfte sprechen sehr gut polnisch, verstehen russisch und diverse andere slavische Sprachen.
Seit über zwanzig Jahren wird in Mitte gebuddelt und restauriert, in einem Maße, das in der ohnehin schon sehr bewegten Baugeschichte der Stadt beispiellos ist. In diesen Jahren schienen alle plötzlich vom Virus des Hedonismus infiziert. Was früher normal war, wurde nun als marode Ruine deklariert, an der sofortige Maßnahmen erforderlich sind. Riesige Abrissbirnen baumelten an enormen Stahlketten, droschen auf die Symbole der DDR ein und verwandelten sie in einen rauchenden Trümmerhaufen. Seit zwanzig Jahren raucht Mitte also. Der Wind sorgt dafür, Staub und Asche in die umliegenden Viertel zu exportieren. Den täglichen Kampf gegen den Baustaub machen Hydranten, sie sollen ihn befeuchten und niederschlagen lassen, aber das gelingt nicht immer. Deshalb ist die Luft in Mitte überwiegend staubig, in allen Varianten.
Kalkluft, Zementluft, Ziegelluft, Sandluft… Manchmal mischt sich auch Luft von Farben und Lacken unter den Abgasgeruch. Zu DDR-Zeiten atmete man die Luft vom Mix der Trabis, die hatten Zweitaktmotoren wie Mofas, und sonst gab es kaum Autos: die Leute fuhren S-Bahn oder Straßenbahn. Jetzt fahren in Mitte normale Autos mit Viertaktmotor, von Leuten, die gerne mit dem eigenen Fahrzeug unterwegs und größtenteils gar nicht aus Berlin sind. Die Baustellen überall machen Umleitungen nötig, Fahrbahnen werden eingeengt oder gesperrt, und die ganzen Autos stehen mit laufendem Motor im Stau und warten, dass die Ampel die Fahrbahn frei gibt. Da kommt an Abgasen einiges zusammen. Das klingt jetzt wie ein Albtraum, und das ist es auch, aber die Touristen amüsieren sich trotzdem, wer weiß aus welcher verpesteten Ecke des Planeten sie kommen. Was die Berliner betrifft, die haben jedenfalls Schlimmeres erlebt und erdulden alles mit gutmütigem Murren. Manche glauben sogar, dass das alles kollektiven Interessen und dem zivilen Fortschritt dient. Für Sie haben wir Unter den Linden aufgerissen, um Ihnen eine neue Einkaufsgalerie zu spendieren, und so sparen Sie die fünfzig Meter zu Fuß, um zu der anderen wundervollen Einkaufsgalerie zu gelangen, die wir soeben für Sie fertig gestellt haben. In der Zwischenzeit mussten Sie die kleine Unannehmlichkeit in Kauf nehmen, zweimal täglich zwischen Französische Straße und Friedrichstraße die U6 zu wechseln. Aber beim Überqueren der Baustelle konnten Sie zweimal täglich aus der Nähe den Fortgang der Bauarbeiten bewundern, die wir hier für Sie machen…
Ohne Illusionen wäre das Leben ja auch nur halb so schön. Jedenfalls bringt uns die Baustelle in Unter den Linden zum träumen. Träumen, dass es bald fertig ist.
Man kann Mitte auch für eine Viertelstunden aus der Luft genießen, vorausgesetzt, man hat zwanzig Euro übrig. An einem der seltenen Tage, an dem die Windgeschwindigkeit 13m/s nicht überschreitet, kann man mit einem Ballon aufsteigen, allerdings ohne den Kontakt zum Boden ganz zu verlieren. Man steigt auf 150 Meter Höhe, und die ruckelige Bewegung wird von einer Stimme aus dem Lautsprecher begleitet, die beim Aufstieg immer wieder betont, wie sicher alles ist, immer sicherer, und auf dem Höhepunkt der Reise und der Sicherheit hat man dann die gesamte Stadt im Blick. Wenn das robuste Stahlkabel von 22 mm Durchmesser wieder aufgerollt wird, kehrt man zur Erde zurück. Wenn das robuste Stahlkabel von 22 mm Durchmesser wieder aufgerollt wird. Der Ballon wird wie ein echtes Flugzeug von einem echten Piloten geführt, er versichert uns daß der Ballon nicht explodieren kann, weil er mit 5.500 Kubikmeter Helium gefüllt ist, und nicht mit Wasserstoff wie die ersten Zeppeline. Der Wind aus Süd-Osten heißt hier Sarotti, nach einer alten Schokoladenfabrik in Kreuzberg. Wenn der Sarotti weht, dann riecht es hier oben intensiv nach Schokolade. Wer alles über den Wind über Berlin wissen möchte (das hat nichts mit der Wettervorhersage zu tun) kann die Webseite des Ballons zu Rate ziehen. Ist der Tag sonnig und klar, wird es erfahrungsgemäß vor allem im Frühling und Herbst nachmittags windig, weil kalte und warme Luftströme aufeinandertreffen. Man erfährt auch, dass der Wind am Boden nur ein Drittel so schnell ist wie in 150 m Höhe, und dass viele Wetterphänomene durch das Zusammentreffen von Hochdruck-Luftströmen mit Tiefdruck-Luftströme entstehen, die sich in entgegengesetzter Richtung drehen. Zurück auf der Erde spürt man ein neues Bewusstsein für die Luft, man fühlt sich erfrischt und hat gelernt, wie wichtig der Abstand für die Perspektive ist. Im besten Fall bekommt man dann auch zu sich selbst den richtigen Abstand.
Wer im Ballon schon etwas Angst bekommen hat, dem möchten wir von dem Sprung mit dem Fallschirm aus 4000 Meter Höhe abraten. Der Fallschirm öffnet sich erst 1500 Meter über dem Boden, nach 50 Sekunden freiem Fall. Diese Erfahrung nimmt fünf bis sieben Minuten und sicher auch die Nerven in Anspruch, der Anspruch an den Geldbeutel beträgt 200 Euro, low-cost Flüge sind nicht vorgesehen. Informationen finden sich auf der Webseite für die Ballonflüge.
An der Kreuzung Unter den Linden/Friedrichstraße befindet sich eine nicht zu übersehende Baustelle. Aber Baustelle ist gar nicht das richtige Wort angesichts der Ausmaße, denn praktisch die ganze Allee ist betroffen. In den vergangenen Monaten wurde der Aushub gemacht, und jetzt werden die Fundamente gelegt, zumindest an dieser Stelle hier. Autos, Taxis, Busse, Lastwagen, Fahrräder und Fußgänger können die Straße weiterhin benutzen, allerdings auf provisorischen Spuren und Gehwegen. Und laut ist es: die Baustelle rasselt und quietscht, es wird gebohrt, gesägt, die Arbeiter müssen zur Verständigung den Baulärm und den Verkehrslärm übertönen, Autos rasen hupend um die Ecke, mancher Fußgänger vergisst, dass er in Deutschland ist und überquert bei Rot, Angestellte auf der Suche nach frischer Luft brüllen in ihre Handys, Touristentrupps versuchen, in der Gruppe zu bleiben, aber einer bleibt immer zurück und der Leithammel fuchtelt dann drohend mit einem Schirm, pfeifen würde er gerne, Verwarnung oder gleich Verweis, aber er weiß, er muss die schwarzen Schafe bis zum Ende der Tour zusammenhalten, und bearbeitet sein Kaugummi wie ein Kokablatt: Ja, die T-Shirts können Sie auch später noch kaufen.
So, an einer solchen Kreuzung möchte man nicht nur bei Rot über die Ampel, am liebsten ließe man sich mit einer Schleuder von einem Kran 800 m nach Westen katapultieren, nämlich in den Tiergarten, genauer gesagt in den Rosengarten. An diesem geheimen Ort werden an mindestens sechs Monaten im Jahr ganz reine Geruchsfrequenzen emittiert. Aber nein, ein Tourist lehnt sich verträumt an den Baustellenzaun. Der Blick nach oben, wie von einer himmlischen Vision überwältigt. Im Himmel ist ein Bauarbeiter mit Zigarette im Mund und lenkt mit beiden Händen einen Kran, von dem meterlange Eisenstangen baumeln. Was gibt’s da zu gucken? Vielleicht hat der Tourist ja das Rauchen aufgegeben und träumt von der Zigarette da oben. Nein, auch am Boden sind lauter Arbeiter mit Zigarette. Warum nach der Zigarette in den Himmel starren wie ein Mondsüchtiger in der Nacht? In Wirklichkeit sieht er gar nichts, er beschnuppert die Luft wie ein Spürhund. Und dabei träumt er. Er träumt, wie er als Kind mit der Familie im Auto zum Meer gefahren ist. Es war richtig heiß im Auto, es gab keine Klimaanlage. Dann wurden die Scheiben heruntergekurbelt, um etwas Luft zu bekommen. Aber draußen war es auch heiß, in der Sonne mindestens fünfzig Grad, und alle wollten ins Meer springen, waren aber im Stau eingekeilt und atmeten die Dämpfe des weich gewordenen Asphalts…Die Dämpfe des weich gewordenen Asphalts, das ist es, was der Tourist gerade riecht, deshalb steht er da wie versteinert, in Berlin, vierzig Jahre später, und stellt sich vor, wie wenige Minuten später der Teergeruch von dem Geruch des heißen Strandes abgelöst wird und er in das salzige Nass des Mittelmeers springt…
Kann sich ein Albtraum unter offenem Himmel in einen Traum mit offenen Augen verwandeln? Ja, kann er. In Sekundenbruchteilen erregen die olfaktorischen Rezeptoren direkt die Gehirnzentren, in denen die Erinnerungen gespeichert sind, und mit den Erinnerungen werden auch die Emotionen geweckt. Wenn man also bereit ist, alles was durch die Nase geht auch wahrzunehmen, kann jeder Geruchsmoment zu einer Zeitreise in die eigene Wahrnehmungswelt werden und die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpfen. Die Arbeiter, die auf der Baustelle die Teerbahnen zusammenlöten werden behaupten, dass sie den Teergeruch gar nicht mehr wahrnehmen, fühlen sich aber durch Dieselabgase an der Ampel belästigt. Und wenn man sie bittet, mindestens einen guten Geruch zu benennen, halten sie schmunzelnd die Flamme an einen Holzbalken und lachen: Kamin! So ist es eben: augenblicklich vernimmt man den Geruch der Flamme und die Würze des Holzfeuers, mit allem was das für diese Arbeiter bedeuten mag: Heim, Wochenende, Familie… Ein Arbeiter kommt dazu und möchte etwas dazu sagen: Pizza! Riecht ihr nicht die Pizzeria? Und alle ringsherum lachen, wie in einem Stummfilm, denn der Verkehrs- und Baumlärm übertönen alles.
Mitte hat die Nase immer in der Zukunft. Das Viertel wollte nach dem Mauerfall seine DDR-Vergangenheit umgehend vergessen. Man läuft dort durch Straßen, die einen geradezu hochnäsig mustern, man geht in der Geschichte gerade mal dreißig Jahre zurück und fragt: Na war das hier nicht bis vor Kurzem DDR? Das frisch geliftete Mauerwerk wird schnippisch: Wir und DDR? Das hier ist die erste Sahne von Berlin! Und die reine Luft! Die Kunstgalerien und Luxusboutiquen! Spürst du nicht die Qualität der Waren in unseren Boulagerien? Da gibt’s auch Brot, aber nicht wie das in euren Bäckereien! Unsere Boulangerien machen super ökologisches Brot, biodynamisch! merkst du gar nicht, dass unsere Schokolade so edel ist, dass sie bitter schmeckt, daß unsere jüdischen Restaurants selbstverständlich koscher sind und die türkischen Zuckerbäcker „Confiserie Oriental“ heißen? Wir sind immer noch in Berlin, wenn auch in der Gegend der Oranienburger Straße, und sehen uns jetzt mal in der Tucholskystraße und Auguststraße um, um ein bisschen Berliner nouvelle noblesse zu atmen. Zu den wertvollsten Substanzen, die die Menschheit je gekannt hat gehört Natriumchlorid. Seit der Antike war es geradezu ein Symbol für Reichtum, Mythen und Legenden bestätigen seine Bedeutung. Der Besitz von Salz bedeutete einst, verderbliche Lebensmittel konservieren zu können und damit Nahrung und Wohlstand für die Zukunft zu sichern. In der Auguststraße 89 ist keine Salzmine, aber fast. Wir betreten Saltero, die Salzgrotten. Wir machen das nicht für uns, sondern für den Touristen an der Baustelle von Unter den Linden und seinen Traum vom Mittelmeer. Das hier ist zwar Steinsalz, aber vielleicht ist es ja trotzdem ein Ersatz für das Meer. Zum Saltero kommen Leute mit Bronchitis, Astma und Allergien, um Salzluft zu inhalieren, oder auch Angestellte, die in der Mittagspause etwas schlafen und dabei Salz einatmen möchten. Für zehn Euro betritt man einen Raum, der rundherum mit einer Salzkruste überzogen ist, Decke, Wände, Fußboden, überall Salz, selbst die Lampen sind aus Salz, man legt sich auf Liegestühle oder Sofas voller Salz, und daneben steht ein Salzgenerator, der feine Salzpartikel in die Luft bläst, die dann eingeatmet werden. Die Hintergrundmusik ist new age und sehr kristallin, man verspürt anfangs euphorisches Staunen und nach und nach herzhafte Entspannung. Wir danken unserem Schöpfer für die Gelegenheit, eine solche Erfahrung machen zu dürfen und fühlen uns wunschlos glücklich. Wir lecken uns die Lippen, sie sind salzig: im Nu sind sie dann wieder mit Salz überzogen, ebenso wie die Kleidung, die Hände…wir lecken uns ständig die Lippen und denken an zwanghafte Konsumenten von Popcorn oder Chips und an Strandurlauber, die hohe Kosten, jede Menge Stress und die Gesellschaft der Schwiegermutter auf sich nehmen, nur um diesen Geschmack auf den Lippen zu haben. Irgendwann brennt das Salz dann in den Augen, genau wie beim Sprung ins Mittelmeer. Wir schließen die Augen. Denken an den Touristen an Unter den Linden. Wunderbar. Die Nase fühlt sich langsam trocken an. Die Lippen sind nach wie vor salzig. Wie sagt man noch: das Salz des Lebens! Man fühlt sich wie neugeboren: die Substanz verteilt sich in den Bronchien und scheint sie gleichzeitig zu wärmen und zu erfrischen. Das Salz riecht frisch und trocken. Frisch wie eiskalte Luft, es sticht etwas beim Einatmen. So könnte man sterben: wir planen unser Leben im Jenseits mit einem Sarg aus Salz, einem Grab aus Salz, alle unsere Freunde sind auch hübsch eingesalzen, und eine russische Stimme sagt uns auf Deutsch, dass unsere 45 Minuten um sind und wir den Raum verlassen können. Wir sind wie aus dem Schlaf gerissen, und in den Bronchien ist etwas lose, wie als wir klein waren und inhalieren mussten, wenn wir krank waren. Aber hier läuft dazu die tolle Musik und wir haben bequem gelegen, sogar geschlafen, und jetzt haben wir das Haar voller Salz und lächeln wie benommen beim hinausgehen. Der Prana tanzt in uns und wir fühlen uns zu allem fähig, mit einem Satz könnten wir wie eine Katze auf das Dach eines dieser pastellfarbenen, dreistöckigen Häuser springen und rufen: Berlin! Berlin! Du bist der Himalaya! Die Galeristen in den Schaufenstern gegenüber würden keine Miene verziehen. Sie würden ihre lila Bifokalbrillen für einen Moment auf die Nasenspitze rücken, von ihren Schreibtischen zu uns auf das Dach schauen und seufzen: Ach, eine Installation!
Stattdessen gehen wir in den ersten Nobel-Schokoladenladen, den wir in der Linienstraße 140 antreffen. Atelier Cacao heißt er, nicht ganz zufällig. Ganze Skulpturen aus Schokolade in den Farben beige, braun und creme bereiten einen warmen Empfang. Die Schokolade ist bio und eine Tafel von 100 g kostet über 4 Euro. Und dann gibt es natürlich die Kreationen, aber das ist ein anderes Kapitel. Man kann das für wenig demokratisch halten, aber die Schokolade ist vorzüglich. Sie hat nicht den süßen Geruch normaler Milchschokolade. Hier entdecken wir, dass was man üblicherweise Schokolade nennt, im Wesentlichen aus Milch und Zucker besteht. Echte Schokolade schmeckt und riecht nach geröstetem Gras, frisch und leicht bitter. Da fällt uns ein, dass Schokolade von den Inkas kommt, wo sie eine edle Kultspeise war, die den Göttern näherbrachte, und erst vor kurzem zu einem industriellen, schweizerischen und allgemein verfügbaren Produkt wurde. Wir spüren in diesem Laden die kompakte Qualität, riechen das frische, feine Aroma und fühlen uns ganz dicht am Wesen des Kakaos. Wir möchten den Laden verlassen und auf eines dieser niedrigen Dächer springen und rufen, dass es alle hören: Berlin! Berlin! Du bist so Inka! Die Galeristen in den Schaufenstern gegenüber würden keine Miene verziehen. Sie würden ihre lila Bifokalbrillen für einen Moment auf die Nasenspitze rücken, von ihren Schreibtischen zu uns auf das Dach schauen und seufzen: Das Tacheles?
Nein, das Tacheles gibt es nicht mehr. Oder besser, in der Oranienburger Straße steht noch das alte Gebäude, aber die kreativen Besetzer sind endgültig weg, nach jahrelangen Diskussionen von Politikern, Soziologen, Architekten, und den Besetzern. Ein Klavier, zwei schwarz gekleidete Künstler, eine musikalische Grabrede, das war das definitive Ende des Tacheles im Beisein von Polizei und Presse am 4. September 2012.
Tacheles war eine Künstlerinitiative, die sich 1980 in diesem Gebäude niedergelassen hat, um die Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit im DDR-Regime anzuprangern. Nach dem Mauerfall ging es dann zwanzig Jahre lang erfolgreich weiter. Tacheles hieß auch der Ort der Aktion, ein verfallenes Gebäude, das 1907 als Kaufhaus errichtet und im wechselhaften Verlauf des 20. Jahrhunderts mehrmals verkauft wurde. Das Tacheles zählte jährlich 500.000 Besucher aus aller Welt und beherbergte 30 Ateliers von 80 Künstlern aus 30 verschiedenen Ländern. Man konnte Ausstellungen besichtigen, kostenlose Vorstellungen besuchen, aus Trümmern wurden Skulpturen errichtet und die Ruinen bunt bemalt. Dann lief der Mietvertrag aus, der die Besetzung für einen symbolischen Betrag ermöglichte, der Eigentümer wollte verkaufen und neu investieren. Außerdem war das Gebäude offenbar einsturzgefährdet, und die Räumung wurde angekündigt. Dagegen formierten sich Widerstände und Proteste, es entstand eine internationale Debatte. Manchmal gab es Spannungen und manchmal sah es so aus, als ob der Tacheles unsterblich wäre. Doch das lebendigste Zentrum für zeitgenössische Kunst des neuen Berlin starb nach langen Kämpfen schließlich doch. Manche der Künstler zogen um zur Alten Börse im abgelegenen Arbeiterviertel Marzahn, zwischen Feldern und Plattenbauten. In der Oranienburger Straße atmet man heute eine unwirkliche Stille und Leere.
Das Tacheles ist heute ein bunter Kadaver, auf den Tag für Tag der Taubenmist regnet. Die Straßen ringsherum sind dagen alle neu instandgesetzt, es fehlt das Gegengewicht historischer Elemente, die das statische Stadtbild des renovierten Berlin beleben und neu integrieren könnten. In der nahen Umgebung der Oranienburger Straße ist alles schön, gut und richtig, und es fehlte nur, dass wir darüber klagen. Vom Scheunenviertel mit seiner wenig Vertrauen erweckender Bevölkerung zur Zufluchtsstätte osteuropäischer Juden, dann totes Gebiet voller Kriegsnarben zu DDR-Zeiten: heute ist die Gegend ruhig und clean. Sehr International und wenig Multikulti. Die türkische Feinbäckerei in der Linienstraße beispielsweise heißt Confiserie Orientale Istanbul-Berlin und gibt sich eine frische, südliche Note. Die Einrichtung ist fast vollständig weiß, mit Goldrahmen und Blümchen. Der Tee ist sehr aromatisch, die Lokum, weiche Gelee-Bonbons aus Sirup und Honig, die mit Kokosraspel überzogen sind und eine Haselnuss oder Pistazien enthalten, werden wie Juwelen präsentiert und sind sehr zart für Nase und Gaumen. Man fühlt sich wie auf einer Wolke. Auf einer türkischen Wolke aus einer ätherischen Türkei. Die Türken trinken an den Tischen ihren Tee und sehen aus wie Kunsthändler. Das orientalische Kaffee ist so ruhig, daß wir gar nicht in Versuchung kommen, enthusiastisch auf ein Dach zu springen und zu schreien: Berlin! Berlin! Du bist so orientalisch! Halb schwebend schleichen wir an der schneeweißen Mauer entlang und hauchen, dass niemand uns hört: Berlin, Berlin, que tu es oriental… Die Galeristen in den Schaufenstern gegenüber, die ihre lila Bifokalbrillen gerade für einen Moment auf die Nasenspitze rücken, würden von ihren Schreibtischen zu uns schauen, von unseren Lippen lesen und seufzen: Oui… Wir sind an der Kreuzung Tucholskystraße und folgen einfach dem Brotduft, der uns zur Nr. 31 führt. Das Brot hier ist nicht normal: es ist biodynamisch und im Holzofen gebacken. Der Laden heißt Wiener Brot. Aber Berlin! Berlin! Du bist so wienerisch! geht wirklich nicht. Das Brot ist allerdings wirklich gut. Unsere Geruchsreise endet im Beth Café, dem bekannten jüdischen Restaurant. Ins Beth Café muss man zweimal gehen, einmal reicht nicht. Beim ersten mal fühlt man sich wohl, und beim zweiten mal kommt man, um zu verstehen, warum. Beim zweiten mal fühlt man sich auch wohl und versteht nicht, warum. Also kommt man ein drittes mal…
Es handelt sich um ein israelisches Restaurant, und da die meisten Berliner Juden aus Russland und Ex-Sowjetrepubliken stammen, findet man hier vor allem Juden, die nicht aus Berlin sind.
Hier weht ein ganz besonderer Geist. Zunächst mal darf man hier weder telefonieren noch fotografieren, was dem Ambiente eine gewisse Reinheit verleiht: die Leute sind alle sehr anständig und reden leise. Manche Männer setzen sich beim Eintreten die Kippa auf und waschen sich die Hände in der Schüssel am Eingang mit Wasser aus einem Krug. Das Lokal ist mit kultivierter Eleganz eingerichtet, wirkt aber häuslich. Man fühlt sich irgendwie wie zu Hause, oder besser wie im Esszimmer einer wohlhabenden Familie des 20. Jahrhunderts, mit hellem Porzellan auf dunklen Kommoden, Lavendelsträusschen, roten Samtsofas, braunen Sesseln, Terrazzo-Fußboden und einer Glastür zu einem kleinen Salon, in dem ein Klavier steht. Ein Mann mit einer kleinen runden Brille setzt sich großer Ruhe an einen Tisch. Sein volles, weißes Haar quillt aus der Kippa, er trägt ein weißes Hemd, schwarze Weste und schwarze Hosen. An dem Tisch sitzt ein Mädchen, das offenbar gerade aus der Schule kommt. Es macht Hausaufgaben, das weiche, gewellte Haar zu einem honigfarbenen Chignon gebunden. Die Gerüche sind neutral oder kommen wie gebündelt in schmalen Bändern, wie ein aromatischer Regenbogen. An den Wänden hängen Fotos vom jüdischen Leben in Israel und man hört ganz leise traditionelle Musik. Man vernimmt eine durchdringende Spur von Essig, dann ein Band von Bohnengeruch, ein Wölkchen Ingwer, aber alle Düfte behalten irgendwie ihre Identität. Von einer Suppe aus Kokos und Möhren steigt zunächst intensives Petersilienaroma, nach und nach kommen dann auch die anderen Zutaten zum tragen, aber ohne zu drängeln.
Wer weiß, ob all die Harmonie von der koscheren Küche und Lebensweise herrührt, aber eins ist sicher: hier ist gute Luft.
Die koschere Küche hat viele Regeln und Vorschriften, die bekannteste besagt, dass Fleisch und Milch nicht gemischt werden dürfen. Eine andere Regel betrifft das Fleisch: man benutzt Geflügel, Schaf, Ziege und Rind, aber die Schlachtung erfolgt nach traditionellen Regeln, damit das Tier nicht leidet.
Fisch ist nur erlaubt, wenn er Schuppen und Gräten hat.
Hier im Beth werden nur parvene Speisen gereicht, also solche, die neutral sind und weder Milch noch Fleisch enthalten.
So verschwinden aus der Küche alle Gerüche nach tierischem Fett, und das ist wahrscheinlich auch der Grund für die reine Luft, im Gegensatz zu den Essensgerüchen aus einer typisch deutschen Küche. Eine Schweinshaxe z. B., oder eine Bratwurst allein zu erwähnen kommt im Bath schon einer Beleidigung gleich.
Wenn man sich in Berlin nach frischer Luft sehnt, kann man also hierhin kommen, und den Humus einatmen, ein frisches Mus aus Kichererbsen, ohne Gebrauch von Besteck direkt auf die Pita gebracht, führt man es erst an die Nase und dann zum Mund. Reis mit Linsen sind ein glückliches Paar: beide behalten ihre Identität und haben es doch gut miteinander, und wir mit ihnen. Die Auberginen mit Tomatensoße sind ganz einfach und doch frisch und leicht, obwohl frittiert. Bohnen mit Knoblauch und Petersilie bilden ein solides Trio, der Knoblauch brennt erst in der Nase und dann im Magen, die in Essig eingelegten Peperoni sind typisch für die nahöstliche Küche und schmecken hier mehr nach Peperoni als nach Essig, sie liegen auf einer Scheibe von echten, süßen, israelischen Orangen und bekommen dadurch ein leicht süßliches Aroma.
Mit Liebe, Intelligenz und erstklassigen Zutaten kann man auch mit ganz einfachen Rezepten ganz erstaunliches erreichen. Schon ein einziges Stück süße Orange kann einen Tag erhellen.
Wir trinken noch einen hausgemachten Mangolikör, der Alkohol sinkt warm nach unten und der Mango steigt frisch nach oben, wir verlassen das Lokal und schwingen getrennt und glücklich.
Wir könnten jetzt sagen, dass wir uns koscher fühlen, aber mit Äußerungen über Juden riskiert man immer Missverständnisse oder Peinlichkeiten. Zwei Polizisten stehen immer Wache vor dem Beth Café und vor allem vor der Synagoge daneben, wie auch vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, die außerdem über einen Metalldetektor verfügt. Dieser Beigeschmack nach Besetzten Gebieten stimmt nachdenklich, und man fragt sich, nicht ohne eine Spur Traurigkeit, ob es in diesem Konflikt und überhaupt in der Welt je Frieden geben wird.