Der Hang nach unten – von Jutta Klose

Jutta Klose

 

Meine erste Pflegemutter kam als Flüchtling aus einem Dorf nach Berlin und arbeitete als Putzkraft. Dennoch konnte sie von hoher Warte auf andere herabsehen. Von mir sagte sie: ‚Die hat einen Hang nach unten.‘ Woran sie das festmachte, wusste ich nicht. Wenn ich zu meiner Oma nach Werneuchen fuhr, meinte sie: ‚Da muss du dich nicht waschen und alle essen aus derselben  Schüssel.‘ In Werneuchen hatte jeder seinen eigenen Teller, und ich wusch mich  in einer Schüssel genau wie bei der Pflegemutter.

Ach Heidrun stellte so einen  Hang nach unten fest und fragte, ob ich mich gerne ‚überlegen‘ fühle.

Bei zwei Jungs, einer doof, der andere vom Gymnasium, war der Doofe interessanter, wenn er gut aussah und Rock’n’Roll tanzen konnte. Es war schon komisch, die Gymnasiasten tanzten Dixi in der Eierschale, die Bauarbeiter Rock’n’Roll im Klub. Rock’n’Roll ist der sehr viel schönere Tanz und auch die Musik viel besser.

Und dann das Praktische. Wenn jemand die Lampe anbringen konnte, was das besser als Lateinkenntnisse. Also ‚Hang nach unten‘.

Heute komme ich die Treppe runter und sehe unsere Treppenreinigung. Frau XY geht an ihm vorbei, als sei er Luft. Ich begrüße ihn und wir wechseln ein paar Worte. Auf dem Rückweg vom Einkaufen treffe ich ihn wieder, und er nimmt mir Tasche und Tüten ab. Danach lädt er mich zu Kaffee und Kuchen ein. Seine beiden Söhne sind auf dem Gymnasium. Er selbst kommt aus Albanien. Was sind diese Leute tüchtig! Kommen in ein total unbekanntes Land, ohne die Sprache zu können und müssen eine schlecht bezahlte Arbeit verrichten. Unsere Hausreinigung ist eigentlich Tischler. – Übrigens ist er der freundliche Herr, der mir im Winter Starthilfe gegeben hat, nachdem ich drei Stunden Hinz und Kunz vergeblich um Hilfe gebeten hatte. Und er wollte partout kein Geld nehmen.

6 Jahren vor